Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

DOI Heft:
Heft 19 (1. Juliheft 1903)
DOI Artikel:
Lose Blätter
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0392

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
chem eigentümlich sind. Aus zwei solcher Bekenntnisbücher möchten
wir heute aufmerksam machen. Sie sind dem Gehalt wie der Form
nach grundverschieden und haben, abgesehen von dem gemeinsamen
Standesmilieu höchstens den Mangel einer revolutionären Gesinnung
gemein, ja, merkwürdig genug, diese beiden Arbeiter empfinden, ge-
wiß ganz wider Erwarten so manchen Politikers, religiös und fast
konservativ, wie mühselig die Lebensläufe sind, die sie erzählen, und
trotz des großen Bildungsunterschiedes, der sie wieder untereinander
trennt.

Der eine, Karl Fischer, dessen „Denkwürdigkeiten und Er-
innerungen eines Arbeiters" Paul Göhre (bei Diederichs, Leipzig,
4.50 Mk.) herausgegeben hat, will weiter nichts, als sein Leben der
Wahrheit gemäß, genau bis in die kleinsten Verrichtungen hinein,
kunstlos erzählen. „Da kam er. . . da sagte ich . . . da sagte er. . .
da ging ich —", so wickelt er gleichmäßig seinen Faden ab, aber so
aufrichtig und natürlich, daß wir mitunter glauben könnten, eine
alte Chronik zu lesen. Wir werden in die Zusammensetzung des
Zwiebackteiges, in die Handgriffe beim Schippen und Karren, beim
Kalkbrennen und Ziegelstreichen eingeweiht. Wir lernen, wie z. B.
in dem hier abgedruckten Kapitel, soziale Einrichtungen sozusagen mit
dem Blick von unten nach oben und damit vielfach recht anders kennen,
als wir's gewohnt sind, oder als die Vorschrift will. Wir sehen,
wie der brave und gefügige Kleinbürgerjunge allmählich sich die not-
gedrungene Moral des herumziehenden Tagelöhners und Handarbeiters
wie eine Schutzfarbe widerwillig aneiguet, wie er, immer im engsten
Gedankenkreise des täglichen Broterwerbens befangen, alt und brest-
haft eines Tages wie eine ausgediente Maschine beiseite geschoben
wird. Das typische Lebensbild eines Arbeiters aus der Frühzeit der
deutschen Jndustrie wie des ganzen vierten Standes, aus den sech-
ziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts tut sich auf.
Es fesselt, obwohl es keineu künstlerischen, obwohl es nur ästhetischen
Genuß gewährt, gleichwie ein verfärbtes Blatt vom herbstlichen Baume:
man schaut iu das krause Netz der Rippen, Adern und Aederchen, und
erkennt in den feinsten Verästelungen die wundersam großen Gesetze.
Nur wer das Buch als ein Naturprodukt in die Hand nimmt, kaun
seinen rein sachlichen Wert auch als Kulturdokument erkennen.

Hugo Bertsch, der Deutschamerikaner, hat mit seinem Roman
„Geschwister" (Stuttgart, Cotta) als mit dem „Buche eines Fabrik-
arbeiters" viel Aufsehen erregt, und Wildbrandt, der Herausgeber,
meint in einer sehr warmen Einleitung: die Vergleichung mit Gorki
läge nahe. Unseres Erachtens müßte sie ziemlich unfruchtbar aus-
fallen, denn Bertsch ist so ungefähr das Gegenteil des Russen und
ist ihm auch an ursprünglicher Begabung nicht im entferntesten ver-
gleichbar. Das schließt nicht aus, daß sein Buch „unliterarisch", form-
los ist, obwohl er viel Schwieriges gelesen hat und sich mit den ange-
lesenen Gedanken und Gefühlen ganz ehrlich und naiv herumschlägt.
Bei ihm überwiegt, genauer: ihn beherrscht das Bedürfnis nach Aus-
druck sehr leidenschaftlicher Gemütsbewegungen, im Gegensatz zu Fischer,
der nur die Tatsachen selber sprechen läßt. Bertsch erzählt in Briefen,
die nicht selten zu kleiuen Tagebüchern zwischen Bruder und Schwester

3^0

llunstwart
 
Annotationen