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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 19 (1. Juliheft 1903)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0393

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anschwellen, von den Erlebnissen beider. Tom Pratt hat seine Linke
in der Maschine verloren, sucht Arbeit, verzweifelt beinahe und schreibt
schließlich ein berühmtes Buch, mit dessen Erlös er die Kinder der
inzwischen elend verstorbenen Schwester aus der Not befreit. Aeußerlich
amerikanisch gefärbt, sind die Begebenheiten bei ihm doch über das
Milieu hinaus ein Stück weit in rein menschliche Horizonte erhoben,
und zwar mit unleugbarer schriftstellerischer Kraft. Freilich, eine
innere Entwicklung ist kaum da, es folgen wohl Zustände auf Zu-
stände, mehr oder weniger pathetisch hervorgesprudelt und bunt kon-
trastiert, oft sentimental, ja trivial. Man steht mehr unter dem Ein-
drucke impressionistisch bewegt wiedergegebener Stimmungen als einer
stetig geführten Handlung, wie sie der Roman nun cinmal verlangt.
Jmmerhin spricht aus einem Verzweiflungsausbruche wie dem nach-
folgend abgedruckten, dann auch in der Art, wie die Schreibenden
sich durch den Briefstil selber charakterisieren, eine Begabung, der
zu wünschen wäre, daß sie über die phantasievolle aber form-
lose Niederschrift persönlicher Erlebnisse hinaus zu objektiverer
Schilderung des Lebens selber käme.

Wir legen nun unsern Lesern zuerst ein Stück aus Bertschs
„Geschwistern" vor, dann eines aus den „Denkwürdigkeiten und Er-
innerungen eines Arbeiters", das in seiner völligen Schlichtheit auf
manchen vielleicht noch ergreifender wirkt.

1-

Rrbritslos.

(Aus Bertschs .Geschwistern*.)

Brooklyn, den 15. Oktober 1900.

Liebe Schwester!

Jch wartete lang', damit ich Dir zur Abwechslung eine Freuden-
botschaft mitteilen könnte. Die ist aber ausgeblieben — wie alles,
was man wünscht, erwartet, hofft, ersehnt und so weiter.

Mein Arbeitgeber in New-Uork, den ich vor zwei Wochen etwa
besuchte, versprach mir eine Antwort zu senden auf mein Bittgesuch
um Arbeit; und diese Antwort blieb aus. Das ist ein so herbes
Gefühl, daß man zusammenhängende Gedanken nicht schreiben kann
damit. Lies, wie es kommt!

. O, war die Welt schön; oder schien sie nur mir armem Ge-
fangenen so schön, dem Stubenhocker, Bettlieger? Kühl wehte die
Seebrise über den Sund, der plätschernd durchschnitten wurde vom
Kiel des Fährboots. Melodisch gurgelten die Wasser unterm Bug.
Seegeier kreisten in der Morgenluft, tauchten nieder auf die Flut,
stiegen aufwärts zum Aether, schwammen in der Freiheit. Wolken
trieben hin am blauen, stillen Dach dort oben — Gedanken-
striche ziehend durch die Schöpfung — und die Königin der Lichter,
wegküssend gleichsam Sorgen, Sünden, Tränen der Menschheit, küßte
die Millionenstadt.

Und Tom wischte sich die Augen. Auf dem vordersten Rand
des pfeilschnell dahinschießenden Fährboots stand er und — der Wind
füllte seine Augen mit Wasser. — —

SU

1. Iuliheft
 
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