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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 19 (1. Juliheft 1903)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0419

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Seele, ihre ungestillte Sehnsucht um so
größer, sich den Geheimnissen der Kunst
hinzugeben, Ohne Zrveifel ist die heut-
zutageso oftleidenschaftlich sich äutzernde
Kunstliebe aus solcher Quelle zu er-
klären. Und roie eigentümlich—gerade
die schweigsams Malerei scheint jetzt
in der lärmendcn Zeit eine umso größere
Anziehungskraft auszuüben. Dieses
geheimnisoolle, anziehende, fesselnde
Schweigen herrscht auch in den Bil-
dern Segantinis.* Darin berührt sich
der Jtaliener mit keinem geringeren,
als mit dem Deutschen Jean Paul.
»Gleicht nicht Segantini dem deutschen
Dichter in seinem unerbittlichen Realis-
mus und in der Darstellung desKleinen,
der Anmut, im transzendentalen Jdca-
lismus, in seinen ästhetischen Figuren?
Ueber beide Welten aber gictzt sich das
verklärende Licht der Poesie, des Him-
mels, der sich über die ganze Erde
spannt." So kann die Bedeutung Se-
gantinis nicht auf Aeutzerlichkeiten be-
ruhen, wie immerhin deren eine doch
seine besondere Technik ist, „vielmehr
auf der Möglichkeit, die er gezeigt hat,
dem Dürftigen den gepriesenen Reiz
des Grotzen zu geben, dem Starren
durch den Glanz des Lichtes Leben zu
geben/ Abcr Segantini hat es aus
der Welt des Kleinen hinausgedrängt.
Von den überkommencn Stosfen wendet
er sich ab; sobald er aber seine sym-
bolischen Jdeen verkörpern will, zieht
es ihn herab zu den Formen der Tra-
dition. Scine Engelwesen sind An-
lehen bei den Prärafaeliten. So trcibt
ihn die immer mehr sich vertiefende
Weltanschauung zur Darstellung der
sittlich hohen Gedanken, die in ihm
sind. Jn seinem letzten Brief finden
wir ihn mit Zeichnungen für die bibls
illu8trev beschäfligt, Dazu sagt Se-
gantini: „Jch glaube von den Dingen
der Erde gelernt zu haben und sie nach
ihrem ästhetisch-geistigenGehalt schätzen
zu können. Nun gilt es die mensch-
liche Gestalt genauer zu studicren
in ihrer Schönheit, wie ich es getan

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habe, als es stch um Kühe, Pferde,
Schafe und die anderen Tiere han-
delte.,. Habe ich Erkenntnis des Lich-
tes und der Farbe in ihrer harmoni-
schen Schönheit..., so glaube ich, nun
meine Gedanken auf die höchste Schön-
heit richten zu dürfen, indem ich schaffe,
was der Geist mir eingibt." Jn seinem
letzten Bilde, das man „Vergehen" ge-
nannt hat, — der Tote wird aus den
verschneiten Höhen zu Tale gebracht —
hat ihm der Geist solch höchste Schön-
heit eingegeben — Natur und Geist in
der Schönheit ihres Ringens bis in den
Tod, — Es ist nicht Segantinis Welt-
aufgabe gewesen, dies letzte Ziel aus-
zubauen. Sein Werk war schon ge-
tan, und das macht ihn unsterblich,
weil es ihn von allen Großen dcr
Gegenwartskunst deutlich abhebt, Jch
will es mit SteinhausenSWorten sagen:
»Wir sehen Wahrheiten — das sagt
unendlich viel und Großes — was
tröstet uns mehr, was erschreckt uns
aber auch mehr. Segantini sah mit
solchem Blick die Erscheinungen der
Welt. Und er sah und wußte es:
Wer ist ärmer, kann ärmer sein, als
der Mensch? Wer ist unerbittlicher als
die Natur in ihrer scheinbaren Unbe-
kümmertheit um alle Freuden, um alles
Elend um sie herum. Niemand hat
das stärker dargestellt, diese kalte Größe
der Natur, dcr Elemente. Niemand
hat die gemeine Wirklichkeit in stärkcren
Kontrast mit dem Erhabenen zu bringen
gewußt: die Not der Armen mit der
gleichmäßigen Nuhe eines strahlenden
Himmels — den Schrei der Schmerzen
mit dem Schweigen des Schnees —
die Unerbittlichkeit des Augenblicks mit
der Gleichmäßigkeit des Gesetzes." Das
ist der Meister und seine Beschränkung,
Es ist nicht Künstleregoismus, son-
dern die ehrliche Auslösung eines uns
verwandten Gefühles, wenn Stein-
hausen, den Meister Segantini als ein
Glied in das Ganze einreihend, sagt:
„Wunderbarer Menschl den wir lieben
und bewundern müssen, vor dem wir

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