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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

DOI issue:
Heft 20 (2. Juliheft 1903)
DOI article:
Lange, Konrad: Die Illusionsästhetik und ihre Gegner, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0450

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verschaffen, der würde ebenso an der Wahrheit vorbeischießen wie
derjenige, der behaupten wollte, das Essen sei nur dazu da, den
Gaumen und die Zunge zu reizen. Eine Aesthetik, die dabei stehen
bliebe, hätte sich von vornherein gerichtet."

Natürlich kann aber eine Ergänzung unseres Daseins durch die
Kunst, wie sie die Jllusionsästhetik fordert, nur von einer Persön--
lichkeit ausgehen, die uns überlegen, in ihrem Vorstellungs- und
Gefühlsleben vollständiger und reicher entwickelt ist als wir. Um
dies recht deutlich hervorzuheben, habe ich einen besonderen Ab-
schnitt hinzugefügt, in welchem ich das Wesen der künstlerischen
Persönlichkeit, des Genies und Talents erörtere. Hier heißt
es u. a.: „Jeder Mensch kann lieben und hassen, fürchten und
hoffen, trauern und fröhlich sein. Aber das Genie kann leidenschaft-
licher lieben und hassen, lebhafter fürchten und hoffen, intensiver
trauern und frohlocken als die andern. Der geniale Mensch lebt nicht
nur sein beschränktes Jch, sondern die ganze Menschheit. . . Das
Genie lebt rascher und energischer als die andern Menschen. Sein
Dasein ist reicher und mannigfaltiger als das ihre. . . Wer sich
in alle Seiten der Natur so intensiv hineinfühlen kann und dabei
die technischen Mittel seiner Kunst so beherrscht, daß er im Stande
ist, die Anschauungen und Gefühle der Menschen der
Natur gegenüber zu bereichern, den nennen wir ein
künstlerisches Genie. . . Schon das höhere Talent, das stark
auf andere wirken will, uähert sich dem Genie dadurch, daß es
klarere Vorstellungen und stärkere Gefühle hat als die
meisten Menschen. . . Der Künstler muß eiu überwiegendes Plus
an eigener Gefühlsstärke haben. Eine gesteigerte Empfäng-
lichkeit für Farben und Formen, Töne und Worte, Charaktere und
Ereignisse, Gefühl, Ausdruck und Bewegung gehört zu seinem Wesen...
Er muß im stande sein, vermöge seiner allgemeinmenschlichen Ge-
fühlsfähigkeit aus den unscheinbarsten unö lückenhaftesten Tatsachen
ein ganzes Gebäude der Natur, des menschlichen Lebens, der mensch-
lichen Seele aufzubauen." (I. 380 f.)

Man kann sich mein Erstaunen denken, als ich bei Volkmann
lesen mußte, ich erkenne das ganze Wesen der Kunst in der Jllusion,
d. h. dem lusterregenden Wechsel zweier Vorstellungsreihen, dieser
rein formale Vorgang erschöpfe für mich das Wesen der künstlerischen
Tätigkeit, es sei mir vollkommen gleichgiltig, was für eine Jllusion
die Kunst erzeuge, ob der Künstler mit seiner Kunst auch wirklich
etwas zu sagen habe oder nicht u. s. w. Oder gar bei Erdmann die
Unterstellung zu lesen, ich glaubte, die gewaltigen, erschütternden und
ergreifenden Eindrücke einer Tragödie nähmen wir nur grade mit
in den Kauf, um an dem prickelnden Spiel einander widersprechen-
der Vorstellungsreihen ein Vergnügen zu empfinden!

Da ich weit davon entfernt bin, bei meinen Kritikern eine böswillige
Absicht vorauszusetzen, muß ich wohl annehmen, daß sie mein Buch
nicht ganz gelesen haben. Nun gebe ich ja zu, daß es schwer
ist, jeden Gedanken eines zweibändigen Werkes immer gegenwärtig
zu haben. Aber es ist vielleicht nicht zu viel verlangt, daß ein
Kritiker, der eine bestimmte Bchauptung einer neuen Lehre wider-

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