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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 21 (1. Augustheft 1903)
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Münzer, G.: Uebungen im Musikhören, [2]: das Lied auf Instrumenten
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0515

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etwa hingesetzt nnd sich gesagt habe: jetzt will ich eine Träumerei
komponieren; daß er dann etwa die Ueberschrift „Träumerei" hin-
geschrieben und darauf nachgedacht habe, wie man wohl in Tönen
träumen könne. Sicherlich fand gerade das umgekehrte Verfahren
statt. Schumann komponierte diese und seine zahlreichen übrigen, mit
Titelüberschriften versehenen Klavierstücke naiv, das heißt hier: nur
aus seiner musikalischen Stimmung heraus. Er setzte erst nach-
träglich einen Titel hinzu, nm dem Spieler einen Hinweis auf die
Seelenverfassung zu geben, welche die Komposition etwa an-
regte. Es bleibt bei dieser Art „Programmmusik" einem jeden über-
lassen, sich sogar etwas anderes vorzustellen, als gerade das, was
der Titel angibt. Nicht eine konkrete Vorstellung sollen wir bei dieser
Art Musik empfangen, sondern vielmehr Stimmung. Das Stück wäre
dasselbe geblieben und würde auf uns ebenso wirken, wenn die
Ueberschrift etwa lauten würde: „Sehnsucht", „Mondscheinzauber",
„Abendwölkchen". Es ist bekannt, daß dieselbe Vorstellung bei ver-
schiedenen Menschen durchaus nicht dieselbe Stimmung hervorruft,
und daß umgekehrt dieselbe Stimmung verschiedene Vorstellungen zu
erwecken vermag. Man versuche einmal, sich bei der „Träumerei"
verschiedenerlei vorzustellen: etwa abendlichen Himmel mit langsam
erblassenden, rötlichen, ruhig dahinziehenden Wolken; oder einen blühen-
den Obstbaum auf klarblauem Himmel, während langsam im sanften
Lufthauch weiße Blütenblätter herniederfallen; endlich einen ruhigen,
kaum bewegten, von flüsterndem Schilf umgebenen Weiher, in dem sich
die Berge des Ufers spiegeln. Man versuche das, und man wird finden,
daß alle diese Vorstellungskreise mit der Stimmung der „Träumerei"
nicht in Widerspruch stehen. Das ist ja auch leicht zu verstehen. Die
Hauptsache bleibt ein Zustand zwischen Wachen und Schlafen, ein
angenehmes Hindämmern; und je nach Veranlagung wird sich aus
dieser Stimmung heraus der eine dies, der andere jenes vorstellen. Der
eine träumt eben am liebsten oder leichtesten am Seeufer, der andre
in der Abenddämmerung, der dritte vielleicht vor blühenden Obst-
bäumen. Alles das ist ganz individuell. Jch möchte empfehlen, daß
sich der Laie oder Dilettant, der Musik verstehen lernen will,
gerade von der absichtlichen Erzeugung solcher Vorstellungen, selbst
bei Programmmusik, möglichst frei mache. Das „Denken" und „Vor-
stellen" ist auch eine Ursache, daß so viele Menschen Musik nicht ver-
stehen lernen oder vage Vorstellungen, Duseleien für Musikverständnis
halten. Wenn es auch — auf andern Gebieten sehr bedeutende —
Leute gegeben hat, die bei Musik nur Vorstellungen, nur „Gesichts-
visionen" spürten, wollen wir dergleichen zunächst möglichst außer Acht
lassen, und persuchen, ein Musikstück nur musikalisch aufzu-
fassen, seinen Bau, seine melodische Entwickelung zu erkennen. Nur
da, wo Vorstellung und Begriff uns einen Hinweis für das musi-
kalische Verständnis geben können oder sollen, wollen wir sie heran-
.ziehen.

Welch weiten Ausblick eröffneten uns diese Betrachtungen über
die kleinste musikalische Form des Liedes! Und noch zu Größerem
führen sie uns, ja ins Allerheiligste der Kunst selbst. Die Themen
wieler Beethovischen Adagios sind Lieder. So die herrlichen, weihe-

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Aunstwart
 
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