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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 22 (2. Augustheft 1903)
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Henrici, Karl: Stadt- und Straßenbild im Mittelalter und in der Neuzeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0555

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jedoch ift ihr eigcn, daß sie die Welt vorurteilsfreier ansieht, und daß
ihr Auge grvßeres Anpassungsvermögen für die malerischen Schön-
heiten der verschiedensten Art besitzt. Ein und derselbe Tourist ver-
mag heute ebensowohl dem weiten Flachlande am Meeresstrande wie
den engen Schluchten im Gebirge Reiz abzugewinnen, und jeder Ge-
bildete ist mehr oder weniger darauf einstudiert, in dem Charakter-
eigentümlichen, einerlei welcher Art es sei, das Sehenswerte
und auch Malerische zn finden.

Das breitgelagerte Gebirgshaus mit seinem steinbelasteten flachen
Dache dünkt uns ebenso malerisch wie das spitzgiebelige schmale Haus
in der Straße einer mittelalterlichen Stadt; beide würden aber diese
Eigenschaft verlieren, wenn man das eine an die Stelle des andern
setzte. Jedes von ihnen steht am richtigen Ort, erfüllt seinen Zweck
und läßt in seiner Erscheinung die Zwcckerfüllung erkennen. Die
Befriedigung, die wir beim Anblick solcher Erscheinung empfinden,
deckt sich zum großen Teil mit dem, was wir malerisch nennen, über-
all aber wird dieser wohltuende Eindruck beeinträchtigt werden, wo
sich Ungeschick und Mangel an Vorbedacht bemerkbar macht. Malerisch
wird ein unpassend gestaltetes Menschenwerk höchstens dann erst, wcnn
es durch die liebevoll korrigierende Hand der Natur zur Ruine ge-
macht, oder mit irgend welcher deckenden Patina überzogen, also mit
der Landschast gleichsam zusammengestimmt worden ist. Die mittel-
alterlichen Straßenbilder bedürfen dieser Nachhülse nicht, sie über-
raschen uns vielmehr mit kaum geahnter Herrlichkeit, wo es gelingt,
durch geschickte Restaurationen den ursprünglichen Bestand treu wieder
vor Augen zn führen.

Die Unhaltbarkeit der Annahme des „zufälligen Entstehens oder
Werdens" der alten Städte hat durch die Untersuchungen des rühm-
lichst bekannten Sozialpolitikers vr. Rud. Eberstadt eine beweiskräftige
Beleuchtung erfahren. Jn seiner jüngst crschienenen, sehr lesenswerten
und kehrreichen Abhandlung: „Rheinische Wohnverhältnisse und ihre
Bedeutung für das Wohnungswesen in Deutschland" (Jena 1903) sagt
er folgendes: „Was wir an dcm Städtebau des Mittelalters zu lernen
haben, ist vor allem die schlechthin vorbildliche Art der Aufteilung
des stüdtischen Bodens. Die mittelalterliche Stadtanlage mit ihrer
bewußten Scheidung der Hausformen und Straßen nach Zweck und
Bedürfnis, mit ihrer trefflichen Abmessung der einzclnen Grundstücke,
ist nur zu verstehen, wcnn wir sie als eine Arbeit der Bodenpar-
zellierung auffassen."

Wer einigermaßen sich in die mittelalterlichen Lebensformen
zurückzuversetzen und in den alten Stadtplänen zu lesen vermag, wird
diesen Satz auf Schritt und Tritt bestätigt finden. llnd wenn man
sich dazu vergegenwärtigt, daß ein Stadtgebilde im höchsten Sinne
des Wortes einen Gebrauchsgegcnstand darstcllt, nnd daß es keincn
solchen gibt, der unzweckmäßig und zugleich schön sein könnte, so
findet man die Schönheit der mittelalterlichen Stadtanlage schon allein
in ihrer nachweisbar bewußten Zweckinäßigkeit begründet. Natürlich
darf man bei solchen Betrachtungen nicht an Droschken, Zweirädcr
und elektrische Bahnen denken, auch nicht an Water-Closets und
Spiegelglasscheiben. Man darf auch nicht vergessen, daß das Horn-,

Kunstwart
 
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