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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 22 (2. Augustheft 1903)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0588

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Aelteste sich weigerte, gemeint, er müsse wohl glaubcn, daß der
Zweitälteste und das Mädchen ein Auge auf einander geworfen hätten.
So heiratete denn der Zweitälteste das Mädchen, und der Aelteste
zog zu ihm hinaus. Wie nun der Hof geteilt wurde, das erfuhr
nicmand außer ihnen, denn sie arbeiteten zusammen wie srüher und
ernteten zusammen, bald in die eine, bald in die andre Scheune.

Nach einiger Zeit begann die Mutter zu kränkeln; sie bedurfte
der Ruh, folglich mußte sie Hilfe haben, und die Söhne kamen
überein, daß sie ein Mädchen mieten wollten, das sonst bei ihnen
auf Arbeit ging. Der Jüngste sollte das Mädchen am nächsten Tage
beim Laubsammeln fragen; er kannte sie am besten. Aber der Jüngste
mußte das Mädchen lange im stillen geliebt haben, denn als er sie
fragen wollte, machte er es so sonderbar, daß sie glaubte, er wolle
um sie freien, und ja sagte. Der Bursche erschrak, ging gleich zu
seinen Brüdern und sagte ihnen, wie kurios es ihm ergangen sei.
Alle vier wurden ernsthaft, und niemand wagte, das erste Wort zu
sagen. Aber der Zweitjüngste sah es dem Jüngsten an, daß er das
Mädchen wirklich liebte, und daß ihm deshalb so angst geworden
war. Er ahnte sogleich das ihm beschiedne Los, Junggeselle zu wer-
den, denn wenn der Jüngste sich verheiratete, konnte er es nicht.
Es wurde ihm ein wenig schwer, denn er hatte selber Eine, die

ihm gefiel, abcr da war nun nichts zu machen. So sprach denn er
das erste Wort, nämlich daß sie des Mädchens am sichersten wären,
wenn sie Frau auf dem Hofe würde. Sobald nur einer gesprochen
hatte, waren sich die andern gleich einig, und die Brüder gingen,
um mit der Mutter zu reden. Aber als sie nach Hause kamen, war

die Mutter ernstlich crkrankt; sie mußten warten, bis sie wieder

gesund geworden war, und da sie nicht wieder gesund wurde, hielten
sie abermals Rat. Hierbei setzte der Jüngste es durch, daß sie, so-
lange die Mutter lebte, keine Veränderung vornehmen wollten, denn
das Mädchen dürfe nicht noch mehrere zu pflegen haben als die

Mutter. Dabei blieb es.

Sechzehn Jahre lag die Mutter krank. Sechzehn Jahre lang
pflegte die künftige Schwiegcrtochter sie still und geduldig. Sech-
zehn Jahre versammelten sich die Söhne jeden Abend an ihrem Bett,
um Andacht zu halten, und des Sonntags nahmen auch die beiden
Aeltesten teil daran. Sie bat sie oft in diesen stillen Stunden, derer
zu gedenken, die sie gepflegt hätte; sie verstanden, was sie damit
sagen wollte, und versprachen es. Sie segnete während all dieser
sechzehn Jahre ihre Krankheit, weil diese sie die Freuden einer
Mutter bis zur Neige hatte kosten lassen; sie dankte ihnen bei jeder
Znsammenkunft, und einmal wurde es dann die letzte.

Als sie tot war, kamen die sechs Brüder zusammen, um sie
zu Grabe zu tragen. Es war hier Sitte, daß auch Frauen zum
Grabe folgten, und diesmal folgte die ganze Gemeinde, Männer und
Fraucn, alles, was gehen konnte, bis hinab zu den Kindern, voran
der Küster als Borsänger, dann die scchs Söhne mit dem Sarge
und dann die ganze Gemeinde, und alle sangen sie, daß es eine
Viertelmeile weit schallte. Und als dic Leiche versenkt war, und
die sechs Erde darauf geschaufelt hatten, zog das ganze Gefolge in

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2. Augusthest tSos
 
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