Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

DOI Heft:
Heft 23 (1. Septemberheft 1903)
DOI Artikel:
Platzhoff-Lejeune, Eduard: Vom bildenden Reisen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0614

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
so heilsam, sich einmal der Relativität der eigenen Kultnr völlig be-
wußt zu werden. Ganz erstaunt macht sich der Reiscnde klar, daß
Denkcn nnd Empsinden seiner Heimat etwas dort vielleicht völlig
Angemesscnes ist, daß aber andcre anders zu fühlen und zu dcnken
cben auch ein Rccht haben. Wie wenige machen sich doch klar, wie
eng Sprache, VolkScharakter und Natur zusammenhängen, welche Vor-
züge und Nachteilc sich ans bestümnten Eigentümlichkciten notwendig
ergebcn. Der einfältige Satz, daß daheim doch alles vicl Lraktischer
und schöner sei, beweist zur Genüge, wic unfähig der Durchschnitts-
reisende zum Verständnis einer frcmdcn Nation zn scin pflegt. Es
geyört cbcn Zeit dazu, sich in diese Zusammcnhänge zu vcrtiefen
und das Fremdartige bis zur kleinsten widerwärtigcn Einzclheit als
notwendig zu empfinden; Zeit abcr habcn nnserc Rcisenden nicht.
Es ist betrübend, wie unbcfleckt von frcmder Kultur sie hcimzukchrcn
pflcgen, wic wenig das Geschaute crlcbt und in Flcisch und Blut
übcrgegangen ist, und wic ausschlicßlich es zu Paradczwecken vcr-
wandt wird. Solltc man cs für möglich halten, daß hunderte vou
Bcsuchcrn der letztcn Weltausstellung nur ihre cigene nationalc Ab-
teilung studiert haben? . . .

„Sie bctrachtcn also das Reisen als eine schwerc Arbeit, auf
die man sich lange vorbereiten, von der man sich lange erholcn
muß? Als ein ernsthaftes, zcitraubendcs und muhcvolles Stndium,
reich an geistigem Gewinn, abcr ebenso reich an matcriellcn Ent-
behrungen? Wo bleibt da der Genuß und die Erholung, tvo die
Freudc, Zerstreuung und Erfrischung?"

Die Sache licgt so cinfach: mau uuterscheide doch zwischen Stu-
dien- und E r h o l u n g s reisen; man verzichte daranf, zwei Flicgcn
mit ciner Klappe zu schlagcn. Und man begebe sich endlich jcner
widcrwärtigcn Heuchclei, die das elterliche oder das eigene Gcwissen
mit dem Bildungswert des Rcisens bcschwichtigt, um sich nachher dcsto
ungescheuter bclustigen zu können. Wer arbciten will, der arbeite
fleißig, und wer sich erholcn will, crhole sich ganz. Die Mehrzahl
unserer Bcamten und Gelehrtcn sind zu eincr Studienreise viel zu
erschöpft. Sic täten sich selbst und ihren Mitmenscheu den größten
Gefallen, wcnn sie eincn Monat lang sich in die Sonne legten und
in cincm bcqucmen Gasthause sichs wohl sein ließen. Aber Gott
sei's geklagt, wir haben heute den Mut zur völligen Faulheit so
wenig wie zum ernsten Fleiß. Jmmer möchte man zugleich lerncn
und ruhen, schafscn und genießen, da man ja doch einmal da ist,
vielleicht nie wieder kommt und was dcrglcichen philiströse Bedenken
mehr sind. Warum rcisen wir nicht ein Jahr zum Studium, und
ein anderes zum Vergnügen? Als wenn es eine Sünde wäre, ein-
mal nicht zu profiticren und vvn den drei Brötchen, die man dem
Kellner bezahlt hat, nur eines zu essen. Lieber mästen wir uns mit
Eindrücken krank, als daß wir etwas „mitzunehmen" vergäßen, was
geradc am Wcgc liegt und auf dessen Genuß wir ein Recht haben. —

Wir kehren zu unserem Ausgangspunkt zurück. Reisen kann
bildend sein, wenn man es crnst damit nimmt und mit der herr-
schenden Praxis völlig bricht. Aber selbst angenommen, wir kämen
so weit, so bleibt noch die Frage: ist das Reisen im günstigsten Falle

4«,

1. Septemberheft 1905
 
Annotationen