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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

DOI Heft:
Heft 23 (1. Septemberheft 1903)
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Platzhoff-Lejeune, Eduard: Vom bildenden Reisen
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0615

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unbedingt fördernd, ist es nicht nur ein Bildungsmittel, sondern
auch eine Bildungs n o t w e n d i g k e i t?

Für viele gewiß; für andere gar nicht. Man könnte die Men-
schen in dieser Beziehung in zwei Klassen teilen, zwischen denen es
natürlich tausend Uebergänge gibt, die man aber doch einmal nach
ihren Extremen betrachten darf. Danach gehören zu dem einen Typus
alle, deren Blick für das Mannigfaltige in der Welt geschärft ist und
an Einzelheiten haftet. Solche Menschen lieben das Neue, andere
Farben, fremde Töne, ungekannte Sitten, entgegengesetzte Charaktere.
Natur und Menschen dnrchsuchen sie nach der Verschiedenheit, die sie
bieten. Da ist denn die nächste Umgebung schnell ausgeschöpft. Sie
werden ungeduldig, wenn sich etwas wiederholt und im alten Geleise
fortbewegt. Jn der Stille und Gleichheit liegt für sie etwas Auf-
regendes und Angreifendes; sie wollen Leben und Bewegnng. Un-
ruhig schweift der Blick in die Ferne, immer drückender wird die
heimische Enge — bis sie endlich das Bündel schnüren und anfs Ge-
ratewohl in die Ferne ziehen, mit wenigem zufrieden, Entbehrung
nicht scheuend, wenn nur der heiße Drang nach Anregung und Aus-
tausch befriedigt wird, wenn nur die Szene wechselt und die Sinne
mit der Anfnahme neuer Eindrücke beschäftigt sind.

Bei all den andern, sagen wir, den „philosophischen" Menschen
geht die Tendenz auf Vereinheitlichung des Geschehenden und aufs
allgemeine. So schnell wie möglich fügen sie die auftauchenden Tat-
sachengruppen zu Gesetzen und erkennen in der Verschiedenheit nur
einen täuschenden Schleier. Sie lauern geradezu auf die Wieder-
holung und die Gleichheit in dem Mannigfaltigen. Sie suchen allein
das Gemeinsame und Verwandte, schweißen das Aehnliche zusammen
und sinnen über mögliche Zusammenhänge nach. Das kleinste Be-
obachtungsfeld genügt ihnen, und aus einer Nuß entwickeln sie die
Weltgesetze. Jhr Streben zielt auf möglichste Vereinfachung; die Fülle
verwirrt sie, und dem neuen Eindruck gehen sie deshalb aus dem
Wege. Jn der Einsamkeit ist ihnen am wohlsten, dort lauschen sie
ungestört auf die innere Stimme; dort erleben sie in einem Tage
mehr, als der Weltumsegler in einem Jahr. Jm strengen Sinne
Neues gibt es nicht für sie, alles, was ihnen zum erstenmal be-
gegnet, reiht sich einer schon gebildeten Gruppe ein, macht einen Zu-
sammenhang wahrscheinlicher, zerstört oder bestätigt eine Theorie. Was
anch kommen mag, ist ihnen irgendwie bekannt, und die Wiederholnngen
sind so häufig, daß sie es schließlich müde werden, nach außen zu
sehn, und sich ganz in ihre Gedanken vertiefen und verschließen. —
Man kann solch einen philosophischen Menschen nicht unglücklicher
machen, als wenn man ihn zum Reisen zwingt. Er erlebt dort nichts
und genießt nichts. Es regt ihn auf und er sucht „Abregung"; es
verwirrt und er sucht Klärung. Seine Gedanken sind ohnehin
gespannt beschäftigt, und nun führt man ihnen noch neue Nah-
rung zu! Als Beispiele des philosophischen Menschen, als eines viel-
leicht weniger geläufigen Typus, nenne ich nur Carlyle und Emerson.
Jener kleidete den Gedanken in die groteske Form, die ügyptische
Sphinx stehe schon seit Jahrtausenden glotzend im Wüstensande, ob
wir sie nun besuchten oder nicht; dieser erklärte, auf seiner Weltreise

§82 Kunstwart
 
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