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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

DOI Heft:
Heft 23 (1. Septemberheft 1903)
DOI Artikel:
Weber, Leopold: Wollen und Können, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0618

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ten Stadt, unter dem Bildc einer unbegrenzten Stadt stellt sich seinc
Phantasie das himmlische ersehnte Jenseits vor! Nun ist es ja aller-
dings sehr möglich, datz sich Lienhard unter der Himmelsstadt „eigent-
lich" gar keine Stadt, mit andern Worten überhaupt nichts Bestimmtes
gedacht hat, datz er mit einem althergebrachten religiösen Bilde rheto-
risch gewirtschaftet hat, aber wird die Sache dadurch besser für ihn?
Jch denke, es ist schlimm genug, wenn ein Poet in allgemeinen Gefühlen
befangcn bleibt, ohne sie zu bestimmten Vorstellungen verdichten zu können,
datz aber ein Dichter klare Bilder gebraucht, damit wir uns darunter
nicht das vorstellen, was er uns zeigt, und zwar gerade an dcr Stelle,
wo seine Sehnsucht ihr höchstes Ziel zu nennen sucht, das ist, scheint
mir der Gipfel des „nur so Tuns" gegenüber dem Kunsternst des Dar-
stellens und Bildens. Und wo stecken hier die bedeutenderen allgemein
poetischen Werte, die uns über die schweren ästhetischen Schäden trösten
könnten? können wir sie in den Worten sinden, mit denen Lienhard
seiner Sehnsucht rednerischen Ausdruck gibt? können wir ein besonders
eigenkräftiges Gcfühl aus dem Seufzer heraushören:

„Wie bald vergiiii; mein Lrdentaa, und all' iiiein Tagewerk — wie bald!"

Aehnlich hört man das Philisterium doch wohl alltüglich seufzen. Dder
lebt's in der herzlich konventionellen Gegenüberstellung:

„Uicht müd bin ich vom Tagewerk und doch bin ich dcs Tages satt."

Wir wissen es aus Claudiusschen Liedern und nicht nur aus ihnen,
datz das einfache, schlichtklare Aussprechen eines Gefühls, wie's in be-
gnadetem Augenblick warm aus dem Herzen quillt, schier ebenso stark er-
greifen kann, wie das „Gesicht", zu dem sein Empfinden dem grotzen
Künstler zusammenrinnt. Diese hohe Einfalt hat aber bei all ihrer
Schlichtheit nicht das Geringste mit Alltäglichkeit zu tun.

Mehr als allegorisierende Nhetorik vermag ich auch in den „wun-
derbar" genannten Vierzeilen nicht zu finden:

U)ic groß das Abcndrot die Stadt umschlingt! . .

Das ist die Art, wie nian die Welt bezwingt:

So groß und klar und voller Friede blüht,

Poch über aller U)elt ein rein Gemütl

Für meine nachschaffende Phantasie wenigstens will das Abendrot,
das die Stadt unten „umschlingt", nicht recht überzeugend in eine
cinheitlichc Anschauung mit dem reinen Gemüt, das „hoch über aller
Welt blüht", zusammengehn, gerade auf diese überzeugende Anschau-
lichkeit kommt es aber an — nicht darauf, daß sich cin Vergleich
vor unsrer nachprüfenden Logik behaupten kann. Eigenkraft des Ge-
fühls vermittelt mir dicse Nhctorik mit ihrcn längst vertrauten Klängen
übrigens auch nicht.

Hübsche Einzelheitcn bringt dann das gleichfalls von Lienhards
Anhängcrn ausgezeichnete Gedicht „Jm Herbst".

Uicht will ich darum beten — in den tiöb'n
Dem Perrn der Welt sei's willig überlassen:

Doch däucht mir ost, es wäre groß und schön,

Dürft' ich i>» gold'nen Perbst die welt verlassen.

H85

Septemberbeft lgos
 
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