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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 23 (1. Septemberheft 1903)
DOI Artikel:
Schultze-Naumburg, Paul: Kulturarbeiten: unsere Dörfer
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0627

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haben. Gegen solche Gedanken war nichts einzuwenden, so lange man
die Wahrheit in ihrem Kernpunkte faßte: daß, wenn ein neuer Sinu
aufträte, eine neue Form diesen ausdrücken müßte, weil nämlich die
Form immer der wahrhaftige Ausdruck des dem Dinge innewohnen-
den Sinnes sein müsse. Wir können aber mit einem Schlagwort
wie dem angeführten nicht wie mit der Elle messen. Wenn wir dem
seltsamen Werden der Kultur mit unserm Verstande in seine Ge-
heimnisse nachdringen wollen, so müssen wir das etwas gründlicher
anstellen, als daß wir die Sache rasch mit einem Modeschlagworte
abmachen. Nicht allein, daß man mit allen programmäßig ge-
züchteten Zukunftskunstformen selten die Wege des natürlichen Wachs-
tums einschlägt — auch die Theorieen leiden meist an einer Krampf-
haftigkeit, die sie bis zur Wertlosigkeit herunterbringt.

Der große Denkfehler, den die Neuerer um jeden Preis gemacht
haben, war der, daß sie einen Analogieschluß auf die Vergangen-
heit zu ziehen glaubten, als sie den Satz aufstellten: Jede Epoche
der Vergangenheit hat ihren eigenen Stil gehabt, deswegen dürfen
wir nicht in den überkommenen Formen weiterschaffen, denn sie
sind nicht unsere Formen.

Dieser Satz ist falsch. Es ist durchaus nicht richtig, daß alle
Zeiten immer wieder ganz andere Formen gehabt haben. Ganz
sicher hatte jede Epoche ihre charakteristischen Stilformen, besonders
in der schwankenden Mode der höfischen Luxuskunst, und am aus-
gesprochensten im Ornament; außerdem aber gab es immer noch
Grundformen menschlich-künstlerischer Gestaltung, die zahlreichen
Epochen hintereinander gemeinsam waren und deren Verände-
rungen jedenfalls nur ganz langsam vor sich gingen.

Die Jünger dieser Richtung reden immer von Stil, Stil und
wieder Stil. Wenn man dann recht aufs Gewissen fragt, entdeckt
man aber, daß sie dabei nur an die ornamentalen Schmuckformen
denken, die auf den großen Bauformen daraufsitzen. Will man denn
gar nicht endlich zu der Einsicht kommen, daß es neben diesen
Schmuckformen der Stile, die etwa den Blüten vergleichbar sind, noch
etwas Stabileres gibt, das gleichsam den Unterbau zu allem Ver-
ästeln darstellt, die starken Wurzeln und den Stamm, der das be-
wegte Spiel der Spitzen nicht mitmacht?

Man betrachte die Entwicklung des menschlichen Hauses im
Norden. Neben dem Renaissancehaus, dem Barockhaus, dem Rokoko-
haus und dem Empirehaus — gibt es immer noch ein anderes Haus.
Gleichsam das Urhaus. Ein Haus, das sich nicht rasch von Jahr
zu Jahr ändert, sondern das sich kaum in Jahrhunderten wandelt.

Dieses Haus muß etwas sehr Merkwürdiges sein, nicht wahr?
Es muß eine Tarnkappe aufhaben, denn obgleich es noch überall bei
uns zu Lande in tausenden und abertausenden von Exemplaren lebt,
sieht es doch keiner. Wenigstens keiner von unseren „Gebildeten". Und
weil er es nicht sieht, stolpert er hie und da über eins, und danu
läßt er es ärgerlich abreißen. Und auf die merkwürdige Jdee, aus
dieses Urhaus hinzuweisen, wenn es gilt, den Entwicklungsgang un-
serer Bauformen historisch darzustellen, ist noch keiner gekommen.
Wenigstens keiner von der Zunft.

Runstwart
 
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