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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 23 (1. Septemberheft 1903)
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Volkmann, Ludwig: Sprechsaal: nochmals Langes Illusionsästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0633

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der ästhetischen Wertung unbewußt nebeneinander und durcheinander
laufen. Was ich aber leugne, ist, daß der Wechsel der beiden Vor-
stellungsreihen an sich* die Ursache spezifischer Lustgefühle sei; daß
der „unmittelbare Lustwert der Kunst", wie ihn Lange beschreibt, den
seelischen Zustand darstelle, den die meisten beim Kunstgenuß suchen
und finden. Und wenn Lange auf meine Frage: „Was erfüllt und
ergreift unsere Seele, wenn wir den König Lear hören oder den Faust
oder das Nachtasyl Gorkis? Der Jnhalt dieser Werke oder
der ununterbrochen durchs Hirn fahrende Gedanke, daß alle diese
Menschenschicksale nur Schein sind, daß es ein Mensch ist, der sie
uns vorspiegelt?" die Antwort gibt: „Was uns ergreift, das ist das
Bewußtsein, daß ein Dichter, d. h. ein Wesen unserer Art, aber
vollkommener als wir, aus seinem Jnneren heraus diese Welt ge-
schaffen und zwar so geschaffen hat, daß sie uns als eine, sei es
heroisch gesteigerte, sei es alltägliche Natur glaubwürdig erscheint.
Das Gefühl ferner, daß Schauspieler, also wiederum Wesen unserer
Art, so in die Jntention des Dichters eindringen und ihre eigene
Persönlichkeit so metamorphosieren können, daß uns die Personen,
die sie spielen, als lebendige Menschen erscheinen, an die wir glauben
müssen" — nun, dann kann ich nur erwidern, daß dergleichen Ge-
danken gewitz auftauchen können, und daß es auch ganz gut und
nützlich sein mag, wenn sie ab und zu dem genießenden PubÜikum
zum Bewußtsein kommen. Aber ich bestreite, daß sie für den normalen
Kunstgenuß notwendig sind; ja, ich meine, daß sie grade dann
ausbleiben müssen, wenn wir ganz im Banne der Jllusion stehen
und die machtvollsten Eindrücke von diesen Tragödien empfangen sollen.

Freilich, strenge Beweise lassen sich hier nicht führen und die An-
erkennung unmittelbar empfundcner Tatsachen unseres Bewußtseins läßt
sich nicht erzwingen. Wenn Lange erklärt: er empfinde nun einmal so,
für ihn bestehe der „unmittelbare Lustwert" beim Kunsteindruck immer
und ausschließlich im Wechsel zweier Vorstellungsreihen und er glaube,
daß dies auch bei allen Kunstverständigen der Fall sei, während seine
doch immerhin zahlreichen Gegner dies bestreiten: nun, dann sind wir
vorläufig beim toten Punkte der Diskussion angelangt. Es bleibt
nur übrig, an alle jene zu appellieren, die zum Kunstgenuß, gleich-
zeitig aber auch zur Analyse Psychologischer Erscheinungen befähigt
und geschult sind.

Zum Schluß möchte ich noch daran erinnern, daß es mir in
meinem Aufsatz in erster Linie auf andere Dinge, als die hier be-
rührten, ankam, und daß ich Langcs Jllusionsästhetik nur bei-
läufig erwähnt habe. Wäre es meine Aufgabe gewesen, dieses auch
von mir geschätzte Werk zu besprechen, so hätte ich es natürlich

* Lange schreibt: ,Jn der Kunst ist die Sache ganz klar: da haben wir
ja die Zweiheit der Vorstellungsreihen. Es ist ja kein Zweifel, datz wir
das Bild gleichzeitig als Bild und doch wieder als Natur, nämlich die Natur,
die es vorstellt, auffassen. Wenn wir dabei (I) also Genuh haben, so ist das
einfach ein Beweis (I), datz zwei gleichzeitig auftretende kontrastierende Vor-
stellungsreihen Genutz gewähren könnenck Jch empfehle Lange als Pendant
die folgende schöne Schluhfolgerung: Da wir beim Kauen Lustgefühle haben,
so ist das ein Beweis, dah das Kauen an sich Genuh gewähren könne.

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Kunstwart
 
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