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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 26.1916

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Heft 10/11
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https://doi.org/10.11588/diglit.26490#0391

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Stellung zu Hebbel anerkennend, daß ihm das Bedürfnis dieses
Talentes, Großartiges darzustellen, „sehr ehrenwert blieb". Würde
nicht Mommsen einmal „genial" genannt, so müßte man glauben,
daß dieses Wort in Freytags Lexikon mangele. Und so ist es voll:
kommen natürlich, daß dieser Mann kein rechtes Verhältnis zum
Vers hat. Ihm selbst ist der Vers versagt, wie seine Gedichte und
die Jamben der „Fabier" erweisen. Zwar beabsichtigte Freytag
selbst, den Vers der „Fabier" „schmucklos" zu gestalten, um die
Schauspieler zu zwingen, in jedem Augenblick selbst zur Ausge-
staltung der Rolle beizutragen. Aber dazu bedarf es nicht schmuck-
losen Verses, sondern immer verbleibt dem Darsteller gegenüber
der Rolle einige Freiheit, Freytags Schmucklosigkeit artet aber in
prosaische Nüchternheit aus, und man erkennt, wie sich hier die Theorie
als eine Art Schutzgefühl bildet, um den Dichter über seine eigenen
Mängel hinwegzutäuschen. Das Wesen des Verses ist gespeicherte
Dynamik, ja er ist die Steigerung selbst, und eben darum wider-
steht er dem innersten Instinkt und der theoretischen Einsicht des
mit Spannungen nicht geladenen Freytag. Und wenn Freytag
über die eigenen gesteigerten Zustände spricht, so offenbart sich
abermals die Neigung, die Erhabenheit auf nicht erhabene Art
auszudrücken. Hier erkennt man nicht nur jene norddeutsche Art,
die auch einem andern typischen Norddeutschen, Johannes Brahms,
eigentümlich war, über die eigene Produktivität mit Scham ver-
hüllend zu sprechen, — eine Eigenschaft, die im tiefsten Grunde
doch wohl auf Unkraft zur eigenen Größe beruht, — sondern gerade
dann versagt Freytag, wenn er die Erhabenheit des eigenen
Schaffens aussprechen will: „Dem Verfasser wurde dabei der volle
Genuß zuteil, welcher mit dem Erfinden tragischer Momente ver-
bunden ist. Cs ist der höchste, den der Dichter erhalten kann, man
meint während des begeisterten Schaffens bei einzelnen Stellen
zu empfinden, wie sich das eigene Haar auf dem Haupte sträubt."
Biedermännischer kann man dergleichen nicht ausdrücken. Freytag
ist in jedem Sinne eine bestimmte oberste Sphäre versagt, die
Großglocknerregion der Seele. Verstattet ist ihm eine Mittelgebirgs-
lage der Menschheit, er selbst ist eine Schneekoppennatur; volle
Andacht fühlt er aber nur vor dem Massengebirg großer Volkheit.
Freytag selbst spricht aus, daß sein Leben „in der Hauptsache
dein Leben und Bildungsgang von vielen Tausenden" seiner Zeit-
genossen „sehr ähnlich sieht". Und in so hohem Maße ist er ein
DÜivv Tw-urr/.ov, daß er hinzusetzt: „Jeder, dem in dieser Zeit"
— in den Jahren von den Freiheitskriegen bis zur Gründung
des Deutschen Reiches — „vergönnt war, sich tätig zu regen, hat den
Vorteil, daß in seinem Leben etwas von dem fröhlichen Willen
einer aufsteigenden Volkskraft erkennbar ist". Diese Verbunden-
heit des Individuums mit dem Schicksal seiner Nation wirkt
auch in anderen Lebensläufen starker Dichter: selbst ein zeitlos
lebender Schöpfer wie Friedrich Hebbel hat ahnung- und ab-
sichtslos, doch in einem höheren Sinne gewiß nicht zufällig, das
große Epos seines Volkes dramatisch erneuert unmittelbar vor
Eintritt der gewaltigen nationalen Erfüllung. Doch das Leben,
Wirken und Dichten Gustav Freytags ist gleichsam in jedem Atom
mit Bestimmtheit erkennbar als Teil dieser Volkskraft und dieses
Dolksganges. Seine individuellen Anlagen und Antriebe laufen
mit seinen kollektiven Richtungen und Zielen parallel. Sein Weg
geht in organischer Stätigkeit dahin, ohne Erschütterungen, Brüche
oder auch nur Risse. Er selbst lobt die Fügung, daß er als Pro-
testant, als Preuße, als Abkömmling eines deutscher Eigenart
besonders stark bewußten Grenzstammes geboren ist. Er steigt
nicht, wie etwa Hebbel, aus tiefer gelagerter Schicht der Gesell-
schaft empor; er schwankt nicht, wie Konrad Ferdinand Meyer,
zwischen Franzosentum und Deutschtum; er muß nicht, wie Storni,
der Sohn eines anderen Grenzstammes, in die „Verbannung" gehn:
er bleibt, in jedem Sinne, in den Gemeinschaften, in die er geboren
ist. Dieser durch und durch unlyrische Mann, der zur Natur als
treibender und blühender Kraft keine wesentliche Beziehung hat,
empfindet sich und wird empfunden als verwurzelter Teil der Ge-
schichte, der geschehenen wie der geschehenden, als Abkömmling
von Landleuten und Gelehrten, deren Stamm im sechzehnten Jahr-
hundert sichtbar wird, und als mitwirkende Kraft der aufsteigenden
deutschen Volkskraft zwischen 1813 und 1870. Nicht also wie Brot
und Wasser stärkt dies Buch, sondern es ist wie ein Stück Vokskraft
selbst, das man genießt, und das kräftigt, Bruchstücke und Zellen
aus dem Wachstum des deutschen Volkes, ein Stück geschichtlicher
Natur, ja ein Stück bürgerlicher Natur. Und so wächst Freytag,
auf eben dieser mittleren Ebene, zum Symbol: alles in allem ist
er das von der Natur mit mannigfaltigeren Gaben und reicheren

Energien ausgestattete, gesteigerte Urbild des deutschen Bürgers
in: neunzehnten Jahrhundert. In seinen Schriften kehrt ein Be-
griff immer wieder, fast zahlenmäßig scheint es das am meisten
gebrauchte Beiwort: tüchtig. In reinster Gestalt ist er der „tätige,
tücbtige Mann Goethes". Es ist sein Wesenswort, das Spruchwort
seines bürgerlichen Wappens. f659j Ernst Lissauer.

ach, Idyllen und Mythen von Ernst Lissauer*).
Das Leben eines Musikers als lyrische Substanz begriffen
und aus dieser Substanz das mit dichterischen Ausdrucksmitteln Mög-
liche gestaltet zu haben, ist das Verdienst Ernst Lissauers. Der Realis-
mus unserer Zeit ist zu einem Teil Substanz-Hunger als das
Gegenspiel der Uart pourl'art-Aushöhlung. Wir lieben nicht mehr
die imaginären Stoffe, wir lieben nicht mehr den Klug-Klang des
pantheistischen Gefühls, der Naturseligkeit, des Rausches und der
Verzweiflung; darum wenden sich die Dichter mit Recht zu den
Biographien tüchtiger, großer, freier, seliger Menschen. Lissauer
versucht, uns eine lyrische Biographie Bachs zu geben, in welcher
alles Wesentliche dieses einfachen und großen Lebens festgehalten
ist; die Biographie eines Musikers ist mit lyrischen Mitteln möglich
und die weise Stoffwahl zeigt allein schon den denkenden Gestalter,
dem Überlegung nicht Nüchternheit, Zucht nicht Zwang bedeutet.
Idyllen und Mythen nennt Lissauer sein Werk im Unter-
titel: Bachs Leben ist als individuelles Dasein idyllisch, als Gestal-
tung eines Überpersönlichen mythisch. Idyllisch ist der ruhige Ablauf
dieses Lebens: Geburt, Jugend, Hochzeit, Kinder, Arbeit, Amt und
Tod sind die ehernen Grenzpfähle, innerhalb deren es verläuft.
Kein Sturm äußerer Leidenschaften, keine romantischen Irr-
fahrten, keine bedeutenden Schicksalswenden machen Bachs Leben
„interessant". Alles Geschehen dieses großen Lebens vollzieht
sich in der Seele — und so ist es, als Stoff, der lyrischen Arbeit
zugänglich.
Das Mythische dieses Lebens liegt im Werk und in der ein-
fachen Größe und erschütternden Tiefe seiner Gesinnung. Die
tönende Seele weitet sich zum All; Erleuchtungen und Ekstasen,
Kämpfe und Niederlagen, Göttliches und Menschliches sind in
ihm und der Kreis des Menschlichen schließt sich.
Beide Seiten dieses Lebens hat Lissauer in Rhythmus und Bild
zu fassen gesucht, und uns will scheinen, als sei ihm das Idyllische
besser gelungen als das Mythische. In den eingestreuten Legenden,
als idyllischen Mythen, spricht sich, wie uns dünkt, Lissauers Talent
am reinsten und schönsten aus; wenigstens gehören die „Bremer
Stadtmusikanten" und die Legende von dec Totenwacht der Orgel-
pfeifen an Bachs Sarge zu den schönsten Stücken der Sammlung.
Daneben bezaubern einige idyllische Szenen aus Bachs Leben,
so etwa das zarte Stück „Die Wiege" oder „Lindes Präludieren",
während diejenigen Gedichte, aus welchen das mythische Moment
in Bachs Leben zu uns sprechen soll, nicht frei von Rhetorik und
einer gewissen lyrischen Intellektualität sind und eigentlich mehr
psychologische Lyrismen beim Hören Bachscher Musik, als ursprüng-
lich mythisches Erlebnis zu übermitteln vermögen.
Idyllen und Mythen suchte Lissauer aus der lyrischen Substanz
von Bachs Leben zu formen: Kleinbilder aus dem intimen Leben
des Meisters und Fresken aus dem musikalischen Leben seiner Seele.
Wer will den Dichter tadeln, daß ihm das Zarte besser gelang als
das Gigantische? In ms-Znis ot volmsso Kat ost: man muß sich freuen,
daß Lissauer nur an einem großen und ganz hohen Maßstab ge-
messen werden darf, und wir glauben ihm diese Ehre schuldig zu
sein. Deshalb allein sprechen wir von der Stärke wie von der
Schwäche dieses neuen Werkes. Dessen aber wollen wir uns freuen,
daß dem Dichter einige Verse gelungen sind, in denen etwas von
der Seligkeit der Bachschen Musik in Rhythmus und Tonfall auf-
klingt und mit denen wir diese Ausführungen schließen wollen:
Sommer kommt über die ragenden Pfeifen,
Blühen geht auf, und es laubt Gesang.
Aste schlagen aus, und Zweige greifen,
In strotzenden Kronen wölbt sich klingend Gerank.
Die singenden Wipfel wiegen und wuchten schwer und gelind
Auf und nieder, immer steigt durch die Orgelkronen der Donner-
wind.
s67kj vr. Werner Mahrholz.

*) Rütten Sc Löning, Frankfurt a. M. 1916.


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