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Das Jüngste Gericht
jugendliche knieende Gestalt hinter Petrus und die jugendliche
betende Gestalt unmittelbar hinter Bartholomäus.
Die letztere spielt eine besondere Rolle. Wie schon Kallab
richtig bemerkt hat, zeigt der Kopf Porträtzüge. Ein Porträt von
Michelangelo, der niemals Bildnisse anfertigte, und an dieser Stelle,
in unmittelbarster Nähe Christi, in Anbetung versunken? Wer
anders, als der Besteller des Werkes, der Papst oder allenfalls
Michelangelo selbst, wäre hier zu denken? Es ist das Antlitz weder
des Einen noch des Anderen: dargestellt ist eine bartlose Physio-
gnomie von kräftigen, fast derben Zügen, mit hoher, zurück-
weichender Stirne, vollem, nach hinten gewelltem, kurzem Haar. Ein
kuttenartiger Mantel umgiebt die Schultern. Aber der Kopf ist ganz
übermalt: auf der Venusti'schen Kopie in Neapel erscheint er aus-
nehmend fein gebildet, von edelster Harmonie der Verhältnisse,
jünger, ein altrömischer Typus von grösster Schönheit. Aufmerksam
geworden glaubt man durch die Übermalung hindurch diesen Kopf
im Fresko noch zu erkennen. Vor Venustis Kopie sagte ich mir:
diese Figur ist der Apostel Thomas, und Michelangelo hat ihm
die Züge seines geliebten jüngeren Freundes, des Tommaso Cavalieri
— des Einzigen, den er, wie wir wissen, in einer Zeichnung por-
trätirt hat — verliehen! — War etwa jene Zeichnung, von der
an anderer Stelle die Rede ist, von Michelangelo im Hinblick auf
das Fresko gemacht worden?
Es bleiben vier Frauen zu betrachten übrig, die der Meister
offenbar aus künstlerischen Rücksichten, um eine Analogie mit der
Patriarchenseite herzustellen, den Aposteln gesellt hat. Man dürfte
hier Elisabeth, Johannes' Mutter (die Alte gleich über Johannes
dem Evangelisten ?), Martha, dieSamariterin (die zwei jüngeren
Frauen: die eine, mit kranzartigem Kopfputz, links vom Kopf des
Paulus, die andere über Anna) oder auch die eine oder andere
der Marien erwarten. Aber es lässt sich nichts Bestimmtes sagen.
3. Die Chöre der Propheten und der Confessores.
Sie sind zu einer Gesamtgruppe von zahlreichen Figuren ver-
bunden, derart, dass vorne die Confessores, hinten die Propheten an-
gebracht sind. In zwei Paaren sich umschlingender und küssender
Gestalten dürfte die freudige Verbindung ahnenden Prophetenthums
und wissender Kirchengelehrsamkeit dargestellt sein, wie auch durch
die Bewegung des jugendlichen Propheten, der die Hand eines zu
ihm sich wendenden Confessor erfasst, die gleiche Einswerdung
ausgedrückt wird. Mehrere Greisenfiguren in der hinteren Gruppe
sind blind dargestellt. Eine tiefe Erregung geht durch alle alt-
testamentarischen, nach vorwärts drängenden Gestalten: ein athem-
loses Lauschen, ein erschrecktes, bisweilen fast zweifelndes Schauen,
Das Jüngste Gericht
jugendliche knieende Gestalt hinter Petrus und die jugendliche
betende Gestalt unmittelbar hinter Bartholomäus.
Die letztere spielt eine besondere Rolle. Wie schon Kallab
richtig bemerkt hat, zeigt der Kopf Porträtzüge. Ein Porträt von
Michelangelo, der niemals Bildnisse anfertigte, und an dieser Stelle,
in unmittelbarster Nähe Christi, in Anbetung versunken? Wer
anders, als der Besteller des Werkes, der Papst oder allenfalls
Michelangelo selbst, wäre hier zu denken? Es ist das Antlitz weder
des Einen noch des Anderen: dargestellt ist eine bartlose Physio-
gnomie von kräftigen, fast derben Zügen, mit hoher, zurück-
weichender Stirne, vollem, nach hinten gewelltem, kurzem Haar. Ein
kuttenartiger Mantel umgiebt die Schultern. Aber der Kopf ist ganz
übermalt: auf der Venusti'schen Kopie in Neapel erscheint er aus-
nehmend fein gebildet, von edelster Harmonie der Verhältnisse,
jünger, ein altrömischer Typus von grösster Schönheit. Aufmerksam
geworden glaubt man durch die Übermalung hindurch diesen Kopf
im Fresko noch zu erkennen. Vor Venustis Kopie sagte ich mir:
diese Figur ist der Apostel Thomas, und Michelangelo hat ihm
die Züge seines geliebten jüngeren Freundes, des Tommaso Cavalieri
— des Einzigen, den er, wie wir wissen, in einer Zeichnung por-
trätirt hat — verliehen! — War etwa jene Zeichnung, von der
an anderer Stelle die Rede ist, von Michelangelo im Hinblick auf
das Fresko gemacht worden?
Es bleiben vier Frauen zu betrachten übrig, die der Meister
offenbar aus künstlerischen Rücksichten, um eine Analogie mit der
Patriarchenseite herzustellen, den Aposteln gesellt hat. Man dürfte
hier Elisabeth, Johannes' Mutter (die Alte gleich über Johannes
dem Evangelisten ?), Martha, dieSamariterin (die zwei jüngeren
Frauen: die eine, mit kranzartigem Kopfputz, links vom Kopf des
Paulus, die andere über Anna) oder auch die eine oder andere
der Marien erwarten. Aber es lässt sich nichts Bestimmtes sagen.
3. Die Chöre der Propheten und der Confessores.
Sie sind zu einer Gesamtgruppe von zahlreichen Figuren ver-
bunden, derart, dass vorne die Confessores, hinten die Propheten an-
gebracht sind. In zwei Paaren sich umschlingender und küssender
Gestalten dürfte die freudige Verbindung ahnenden Prophetenthums
und wissender Kirchengelehrsamkeit dargestellt sein, wie auch durch
die Bewegung des jugendlichen Propheten, der die Hand eines zu
ihm sich wendenden Confessor erfasst, die gleiche Einswerdung
ausgedrückt wird. Mehrere Greisenfiguren in der hinteren Gruppe
sind blind dargestellt. Eine tiefe Erregung geht durch alle alt-
testamentarischen, nach vorwärts drängenden Gestalten: ein athem-
loses Lauschen, ein erschrecktes, bisweilen fast zweifelndes Schauen,