Deutung einzelner Figuren
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ein gewaltsames Verarbeiten des Eindruckes, eine ekstatische Be-
geisterung. Dem gegenüber verrathen die Gebärden der zumeist
sitzenden Confessores die freudige Sicherheit des Wissens.
Auch nur die Hauptfiguren der hinteren Gruppe, welche den
Propheten sich gesellende andere Erscheinungen in sich schliesst,
bestimmt mit Namen bezeichnen zu wollen, würde ein bedenkliches
Unterfangen sein. Nur Moses, der auch in Orvieto bei den Pro-
pheten erscheint, glaube ich in dem Alten mit dem auffallend
mächtigen Barte rechts hinten über dem Kreuzesträger erkennen
zu dürfen. Für die beiden leidenschaftlich vordrängenden Jünglinge,
welche in direkte Beziehungen zu den vorne sitzenden nackten
Jünglingen treten, liegt es nahe, wegen einiger Verwandtschaft mit
den Gestalten an der Sixtinischen Decke die Namen Daniel (für
den unteren) und Jesajas (für den oberen) in Vorschlag zu
bringen, und da es ferner erwünscht, auch Jeremias eine Haupt-
stelle zuerkannt zu sehen, liesse sich denken, dass er mit der
Hauptfigur links, dem greisen Blinden, gemeint ist. Oder wäre es
Hiob? Hinter Diesem gewahrt man einen Mann, der durch eine
kronenartige Kopfbedeckung ausgezeichnet ist — David? Unter
den wenigen eingefügten Frauenfiguren wird man Hannah, vielleicht
auch Elisabeth suchen dürfen. Wer aber ist jene vom Kopftuch
halb verhüllte, wie von Leidenschaft verzehrte eindrucksvolle Er-
scheinung über dem sich küssenden Paare rechts? Auffallend ist
die Kennzeichnung dreier Jünglinge (ganz hinten rechts) durch
phrygische Mützen — sollte man sie, da ja neben den Propheten
andere alttestamentarische Persönlichkeiten auftreten, als „die drei
Jünglinge im feurigen Ofen" auffassen dürfen?
Die Schaar der Doctores, deren Bestimmung durch das Fehlen
jeder Kennzeichnung der Trachten ungemein erschwert wird, ist
auf eine sehr kleine Zahl von Persönlichkeiten beschränkt. Diese
Wenigen müssen besonders wichtiger und bekannter Art sein. Vor
Allem erwartet man die Kirchenväter zu finden. Aber nur zwei
Erscheinungen könnten auf Diese hinweisen: nämlich der wild aus-
sehende Greis rechts, der das Kreuz fasst, auf Hieronymus und der
kräftige, bärtige, sitzende auf Augustinus. Doch wäre auch Paulus,
den wir unter den Aposteln vergeblich suchen, hier denkbar. Und
an wen hat Michelangelo gedacht, als er die beiden herrlichen,
sitzenden Jünglinge im Vordergründe schuf? Bezeichnend ist die
intime Beziehung der Jünglinge zu Jesajas und Daniel: wären hier
unter die Confessores zwei Evangelisten aufgenommen worden?
Und weiter, wer ist die ganz von Gewandung verhüllte schräg
sitzende weibliche Gestalt? Sollte es, unmittelbar unter der von
mir Augustinus genannten Figur angebracht, Dessen Mutter, die
hl. Monika sein? Dies Alles bleibt ungewiss.
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ein gewaltsames Verarbeiten des Eindruckes, eine ekstatische Be-
geisterung. Dem gegenüber verrathen die Gebärden der zumeist
sitzenden Confessores die freudige Sicherheit des Wissens.
Auch nur die Hauptfiguren der hinteren Gruppe, welche den
Propheten sich gesellende andere Erscheinungen in sich schliesst,
bestimmt mit Namen bezeichnen zu wollen, würde ein bedenkliches
Unterfangen sein. Nur Moses, der auch in Orvieto bei den Pro-
pheten erscheint, glaube ich in dem Alten mit dem auffallend
mächtigen Barte rechts hinten über dem Kreuzesträger erkennen
zu dürfen. Für die beiden leidenschaftlich vordrängenden Jünglinge,
welche in direkte Beziehungen zu den vorne sitzenden nackten
Jünglingen treten, liegt es nahe, wegen einiger Verwandtschaft mit
den Gestalten an der Sixtinischen Decke die Namen Daniel (für
den unteren) und Jesajas (für den oberen) in Vorschlag zu
bringen, und da es ferner erwünscht, auch Jeremias eine Haupt-
stelle zuerkannt zu sehen, liesse sich denken, dass er mit der
Hauptfigur links, dem greisen Blinden, gemeint ist. Oder wäre es
Hiob? Hinter Diesem gewahrt man einen Mann, der durch eine
kronenartige Kopfbedeckung ausgezeichnet ist — David? Unter
den wenigen eingefügten Frauenfiguren wird man Hannah, vielleicht
auch Elisabeth suchen dürfen. Wer aber ist jene vom Kopftuch
halb verhüllte, wie von Leidenschaft verzehrte eindrucksvolle Er-
scheinung über dem sich küssenden Paare rechts? Auffallend ist
die Kennzeichnung dreier Jünglinge (ganz hinten rechts) durch
phrygische Mützen — sollte man sie, da ja neben den Propheten
andere alttestamentarische Persönlichkeiten auftreten, als „die drei
Jünglinge im feurigen Ofen" auffassen dürfen?
Die Schaar der Doctores, deren Bestimmung durch das Fehlen
jeder Kennzeichnung der Trachten ungemein erschwert wird, ist
auf eine sehr kleine Zahl von Persönlichkeiten beschränkt. Diese
Wenigen müssen besonders wichtiger und bekannter Art sein. Vor
Allem erwartet man die Kirchenväter zu finden. Aber nur zwei
Erscheinungen könnten auf Diese hinweisen: nämlich der wild aus-
sehende Greis rechts, der das Kreuz fasst, auf Hieronymus und der
kräftige, bärtige, sitzende auf Augustinus. Doch wäre auch Paulus,
den wir unter den Aposteln vergeblich suchen, hier denkbar. Und
an wen hat Michelangelo gedacht, als er die beiden herrlichen,
sitzenden Jünglinge im Vordergründe schuf? Bezeichnend ist die
intime Beziehung der Jünglinge zu Jesajas und Daniel: wären hier
unter die Confessores zwei Evangelisten aufgenommen worden?
Und weiter, wer ist die ganz von Gewandung verhüllte schräg
sitzende weibliche Gestalt? Sollte es, unmittelbar unter der von
mir Augustinus genannten Figur angebracht, Dessen Mutter, die
hl. Monika sein? Dies Alles bleibt ungewiss.