Deutung einzelner Figuren 6l
jüngere schmiegt, ist in Anschauung versunken. Verzichtet man aber
gerne bezüglich der übrigen auf Namen — hier angesichts dieser
so ausgezeichneten, isolirten Gruppe drängt sich die Frage doch
auf, wen Michelangelo gemeint habe. Es ist undenkbar, dass er
nicht bestimmte Persönlichkeiten zu schildern beabsichtigt hat.
Der Abbe Rouvier giebt der Gruppe die Benennung: Eva mit
einer ihrer Töchter. Steinmann sieht Anna mit Maria (wie wäre
es denkbar, dass Maria zweimal im Fresko dargestellt sei?). Kallab,
eine symbolische Deutung suchend, will Beatrice erkennen, welche
Rahel umschlingt, d. h. die Vita contemplativa, welche sich zur
christlichen Theologie ,,colla gratia perficiente" (Landino) flüchtet.
„Wehrlos ist auch die tiefste Erkenntniss Gottes, wenn ihr nicht
göttliche Wissenschaft und Gnade zu Hülfe kommt." Wie Dante
sich an seine himmlische Führerin wende, so hier Rahel — pa-
reami che il suo viso ardesse tutto (Par. 23, v. 22). Michelangelo
habe in den beiden Gestalten den Grundgedanken der Divina
Commedia zusammengefasst. Die Erklärung ist zu gesucht, als
dass sie einleuchten könnte. Eine Allegorie anzunehmen, wider-
spricht dem im gesamten Kunstwerke sich äussernden Geiste.
Ungezwungen, so will es mich bedünken, ergiebt sich die Er-
klärung der herrlichen Gruppe, wenn wir an unserer grundlegenden
Auffassung der Chöre festhalten. Dann gehört die mächtige, ganz
in liebende Anschauung Christi versunkene Frau zu den Virgines.
Und unter Diesen — welche dürfte eine so ausgezeichnete Stellung
beanspruchen dürfen, als Magdalena, die Liebende? Und für
sie spricht, wie die sinnlich schöne Bildung des Körpers, so auch
die bei ihr Zuflucht suchende Frau — ist doch Magdalena die
Patronin der Büsserinnen. Es erscheint nicht unangebracht
an die zwei Sonette zu erinnern (CXIV und CLVII der Barbera'schen
Ausgabe), welche Vittoria in ihrem besonderen Kultus für die Heilige
Dieser widmete. Das eine, die Macht der Frauenliebe verherr-
lichend, lautet:
La bella donna a cui dolente preme
Quel gran desio che sgombra ogni paura,
Di notte, sola, inerme, umile e pura,
Armata sol di viva ardente speme.
Entra dentro 'I sepolcro e piange e gerne;
Gli angeli lascia e piü di se non cura:
Ma a' piedi del Signor cade secura,
Che ’1 cor ch' arde d'amor di nulla teme.
Ed agli uomini, eletti a grazie tante,
Forti, insieme rinchiusi, il lume vero
Per timor parve nudo spirto ed ombra.
jüngere schmiegt, ist in Anschauung versunken. Verzichtet man aber
gerne bezüglich der übrigen auf Namen — hier angesichts dieser
so ausgezeichneten, isolirten Gruppe drängt sich die Frage doch
auf, wen Michelangelo gemeint habe. Es ist undenkbar, dass er
nicht bestimmte Persönlichkeiten zu schildern beabsichtigt hat.
Der Abbe Rouvier giebt der Gruppe die Benennung: Eva mit
einer ihrer Töchter. Steinmann sieht Anna mit Maria (wie wäre
es denkbar, dass Maria zweimal im Fresko dargestellt sei?). Kallab,
eine symbolische Deutung suchend, will Beatrice erkennen, welche
Rahel umschlingt, d. h. die Vita contemplativa, welche sich zur
christlichen Theologie ,,colla gratia perficiente" (Landino) flüchtet.
„Wehrlos ist auch die tiefste Erkenntniss Gottes, wenn ihr nicht
göttliche Wissenschaft und Gnade zu Hülfe kommt." Wie Dante
sich an seine himmlische Führerin wende, so hier Rahel — pa-
reami che il suo viso ardesse tutto (Par. 23, v. 22). Michelangelo
habe in den beiden Gestalten den Grundgedanken der Divina
Commedia zusammengefasst. Die Erklärung ist zu gesucht, als
dass sie einleuchten könnte. Eine Allegorie anzunehmen, wider-
spricht dem im gesamten Kunstwerke sich äussernden Geiste.
Ungezwungen, so will es mich bedünken, ergiebt sich die Er-
klärung der herrlichen Gruppe, wenn wir an unserer grundlegenden
Auffassung der Chöre festhalten. Dann gehört die mächtige, ganz
in liebende Anschauung Christi versunkene Frau zu den Virgines.
Und unter Diesen — welche dürfte eine so ausgezeichnete Stellung
beanspruchen dürfen, als Magdalena, die Liebende? Und für
sie spricht, wie die sinnlich schöne Bildung des Körpers, so auch
die bei ihr Zuflucht suchende Frau — ist doch Magdalena die
Patronin der Büsserinnen. Es erscheint nicht unangebracht
an die zwei Sonette zu erinnern (CXIV und CLVII der Barbera'schen
Ausgabe), welche Vittoria in ihrem besonderen Kultus für die Heilige
Dieser widmete. Das eine, die Macht der Frauenliebe verherr-
lichend, lautet:
La bella donna a cui dolente preme
Quel gran desio che sgombra ogni paura,
Di notte, sola, inerme, umile e pura,
Armata sol di viva ardente speme.
Entra dentro 'I sepolcro e piange e gerne;
Gli angeli lascia e piü di se non cura:
Ma a' piedi del Signor cade secura,
Che ’1 cor ch' arde d'amor di nulla teme.
Ed agli uomini, eletti a grazie tante,
Forti, insieme rinchiusi, il lume vero
Per timor parve nudo spirto ed ombra.