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Das Jüngste Gericht
oberen Gruppen sind nicht idealer, ihre Bewegungen nicht edler
als die unten. Umsonst sucht man nach jener ruhigen Glorie von
Engeln, Aposteln und Heiligen, die in anderen Bildern dieses In-
halts schon durch ihr blosses symmetrisches Dasein die Haupt-
gestalt, den Richter, so sehr heben, vollends aber bei Orcagna und
Fiesole mit ihrem wunderbaren Seelenausdruck einen geistigen
Nimbus um ihn ausmachen. Nackte Gestalten, wie Michelangelo
sie wollte, können eine solche Stimmung gar nicht als Träger ver-
dienen; sie verlangen Gesten, Bewegung und eine ganz andere Ab-
stufung von Motiven. Auf die letzteren hatte es der Meister eigent-
lich abgesehen." Er führt dann nach höchster Anerkennung der
poetischen Kraft aus, dass doch wohl die malerischen Gedanken
im Ganzen das Bestimmende gewesen seien. „Vom malerischen
Gesichtspunkte aus ist denn auch sein Werk einer ewigen Bewun-
derung sicher. Es wäre unnütz, die Motive einzeln aufzählen zu
wollen; kein Theil der ganzen grossen Komposition ist in dieser
Beziehung vernachlässigt; überall darf man nach dem Warum? und
Wie? der Stellung fragen und man wird Antwort erhalten." Und
die Betrachtung schliesst: „immer noch bleibt das Ganze einzig
auf Erden."
Erst in dieser neueren Zeit versucht man sich über die geistigen
Vorbedingungen und den Gedankengehalt klar zu werden. Hettner,
dessen Auffassung im Wesentlichen von Justi getheilt wird, erklärt
das Werk aus der Gegenreformation: es zwänge sich wieder in die
Schranken der überlieferten Dogmatik. Carriere (in der Zeitschr. f.
bild. Kunst 1869, IV, S. 334) sieht von solchem Zwange Nichts. Er
erfasst Michelangelo hier als den Maler des Gewissens, wie Shake-
speare dessen Dichter sei. Der Künstler halte Gericht über die
Schlechtigkeit der Welt, wie Shakespeare im Timon und im Lear.
Es sei eine reformatorische Predigt, in Michelangelo rege sich das
Puritanerthum, das durch Milton seine Sprache finden sollte. Mon-
tegut bezeichnet das Gemälde als eine höchste abstrakte Kon-
zeption. Es führe in die ontologischen Sphären des Christenthums,
in denen die Sensibilität, das Mitleid, die Zärtlichkeit Nichts zu thun
haben. „Christus ist gross, nicht weil er vorübergehende Leiden
erfahren, sondern weil er der Vollzieher eines vom Urbeginn der
Zeiten an gefassten Rathschlusses ist." Haendcke erkennt in dem
Schöpfer des Werkes, in dem man durchaus nicht nur die Schil-
derung des Dies irae, sondern stets von Neuem das Hervorbrechen
der Seligkeit gewahre und mit dem gluthvollen Glauben des supra-
naturalistischen Mittelalters die Verherrlichung des Menschen im
Sinne der Renaissance verbunden finde, den Mann, „der beide
Weltansichten, die sich damals trafen, mit sicherster Hand zu ver-
einigen verstand".
Das Jüngste Gericht
oberen Gruppen sind nicht idealer, ihre Bewegungen nicht edler
als die unten. Umsonst sucht man nach jener ruhigen Glorie von
Engeln, Aposteln und Heiligen, die in anderen Bildern dieses In-
halts schon durch ihr blosses symmetrisches Dasein die Haupt-
gestalt, den Richter, so sehr heben, vollends aber bei Orcagna und
Fiesole mit ihrem wunderbaren Seelenausdruck einen geistigen
Nimbus um ihn ausmachen. Nackte Gestalten, wie Michelangelo
sie wollte, können eine solche Stimmung gar nicht als Träger ver-
dienen; sie verlangen Gesten, Bewegung und eine ganz andere Ab-
stufung von Motiven. Auf die letzteren hatte es der Meister eigent-
lich abgesehen." Er führt dann nach höchster Anerkennung der
poetischen Kraft aus, dass doch wohl die malerischen Gedanken
im Ganzen das Bestimmende gewesen seien. „Vom malerischen
Gesichtspunkte aus ist denn auch sein Werk einer ewigen Bewun-
derung sicher. Es wäre unnütz, die Motive einzeln aufzählen zu
wollen; kein Theil der ganzen grossen Komposition ist in dieser
Beziehung vernachlässigt; überall darf man nach dem Warum? und
Wie? der Stellung fragen und man wird Antwort erhalten." Und
die Betrachtung schliesst: „immer noch bleibt das Ganze einzig
auf Erden."
Erst in dieser neueren Zeit versucht man sich über die geistigen
Vorbedingungen und den Gedankengehalt klar zu werden. Hettner,
dessen Auffassung im Wesentlichen von Justi getheilt wird, erklärt
das Werk aus der Gegenreformation: es zwänge sich wieder in die
Schranken der überlieferten Dogmatik. Carriere (in der Zeitschr. f.
bild. Kunst 1869, IV, S. 334) sieht von solchem Zwange Nichts. Er
erfasst Michelangelo hier als den Maler des Gewissens, wie Shake-
speare dessen Dichter sei. Der Künstler halte Gericht über die
Schlechtigkeit der Welt, wie Shakespeare im Timon und im Lear.
Es sei eine reformatorische Predigt, in Michelangelo rege sich das
Puritanerthum, das durch Milton seine Sprache finden sollte. Mon-
tegut bezeichnet das Gemälde als eine höchste abstrakte Kon-
zeption. Es führe in die ontologischen Sphären des Christenthums,
in denen die Sensibilität, das Mitleid, die Zärtlichkeit Nichts zu thun
haben. „Christus ist gross, nicht weil er vorübergehende Leiden
erfahren, sondern weil er der Vollzieher eines vom Urbeginn der
Zeiten an gefassten Rathschlusses ist." Haendcke erkennt in dem
Schöpfer des Werkes, in dem man durchaus nicht nur die Schil-
derung des Dies irae, sondern stets von Neuem das Hervorbrechen
der Seligkeit gewahre und mit dem gluthvollen Glauben des supra-
naturalistischen Mittelalters die Verherrlichung des Menschen im
Sinne der Renaissance verbunden finde, den Mann, „der beide
Weltansichten, die sich damals trafen, mit sicherster Hand zu ver-
einigen verstand".