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Thode, Henry; Michelangelo; Michelangelo [Mitarb.]
Michelangelo: kritische Untersuchungen über seine Werke; als Anhang zu dem Werke Michelangelo und das Ende der Renaissance (Band 2) — Berlin: Grote, 1908

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Die Pieta im Palazzo Barberini zu Palestrina

281

V
Die Pietä im Palazzo Barberini zu Palestrina
Die Entdeckung eines bisher unbekannten Werkes von Michel-
angelo erregte vor Kurzem die allgemeine Aufmerksamkeit. A. Grenier
fand in der zweiten Seitenkapelle des Oratoriums der hl. Rosalie
im Palazzo Barberini zu Palestrina eine nicht vollendete Pietä, die
er als ein Werk des Meisters, entstanden in der Zeit zwischen der
Gruppe im Florentiner Dom und der Pietä Rondanini, gegen I55O>
bekannt machte (Gaz. d. b. a. III. Per. XXXVII, S. i77ff, 1907).
Die Gruppe scheint unmittelbar aus dem Felsen, an den die
Kapelle angebaut ist, reliefartig herausgearbeitet zu sein — jeden-
falls ist sie aus einer Art Marmorstein von Palestrina und muss
an Ort und Stelle gearbeitet sein. Ähnlich wie in der Pietä Ron-
danini ist Maria dargestellt, die vor sich den zusammengebrochenen
Leichnam (mit der rechten Hand unter dessen Achsel) hält, dessen
zur Seite gesunkenes Haupt ihr Kopf in unmittelbarer Nähe an-
schaut. Rechts stützt Magdalena, wie zum Knieen sich nieder-
lassend, den Kopf zum Beschauer gewandt, mit beiden Armen,
unter dem Rücken und unter dem linken Bein, des Heilands Ge-
stalt. Am meisten ausgeführt ist der todte nackte Körper, um
dessen Brust sich ein Band und um dessen Hüften sich ein schmales
Tuch zieht. Die beiden Frauen sind nur aus dem Rohen gearbeitet.
Erinnert die allgemeine Anordnung, namentlich der Magdalena, an
die Gruppe in Florenz, das Hauptmotiv an die Rondanini und an
die Skizzen in Oxford, so zeigt die Haltung des Leichnams (das
seitliche Sichstauen der Beine auf dem Boden) die nächste Ver-
wandtschaft mit dem Christus im Londoner Gemälde der Grab-
legung. Im Besonderen Michelangelesk ist das Brustband und das
Hüftentuch. Die durchgeführte Anatomie des Oberkörpers, der im
Verhältniss zu den Beinen sehr stark gebildet ist, findet ihre Ana-
logieen namentlich in Gestalten des Jüngsten Gerichtes.
Leider war es mir nicht vergönnt, das Original zu sehen.
Die Abbildungen im Grenier'schen Aufsatz lassen über den Michel-
angelesken Charakter der Gruppe keinen Zweifel. Befremdend
wirkt die unverhältnissmässige, zwergenhafte Kürze der Gestalt der
Madonna, die man sich doch stehend, nicht sitzend denken muss, und
die plumpe Form ihres Kopfes. Es wird sich nicht leugnen lassen,
dass die Konzeption des Werkes dem Geiste des Künstlers ent-
spricht und im nächsten Zusammenhange mit Dessen erwähnten
Werken steht. Wollte man einen Nachahmer annehmen, so hätte
Dieser Motive der Florentiner Gruppe, der Pietä Rondanini und
des Gemäldes der Grablegung verquickt: dies ist nicht undenkbar.
 
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