438 Gemälde, Zeichnungen und Entwürfe religiösen Inhaltes
mehreren vorkommen, sind gewiss nicht Erfindungen eines Nach-
ahmers. Wohl aber erklären sich die von einigen Malern hierin
vorgenommenen Veränderungen leicht als beabsichtigte Abweichungen.
Auch die Andeutung auf die Zukunft in dem Symbol verrinnender
Zeit, das Stundenglas, war in dem Vorbilde. Worüber man im
Zweifel sein kann, ist einzig die Bedeutung der Bewegung von Marias
linker Hand. Wiederum erweist die Übereinstimmung in mehreren
Kopien, dass in dem Original (vgl. die Zeichnung) die Hand Nichts
hielt. Wohl aber begreift man, dass einige Kopisten auf den Ge-
danken kamen, Michelangelo habe beabsichtigt, sie ein Schleiertuch
über dem Kind halten oder lüften zu lassen. War dies des Meisters
Gedanke? Diese Frage führt uns zu der weiteren, in welchem
Zusammenhang die Komposition mit anderen steht.
In einer der uns von betrachteten Studien (s. II, S. 431, Nr. VII)
gewahrten wir den schlafenden Knaben in Marias Schooss. Aber
nicht an sie, sondern an eine Gruppe von Bildern werden wir erinnert.
In zwei Gemälden hatte Raphael das Motiv: Maria lüftet einen Schleier
über dem Kind behandelt: in der „Madonna del Velo", wo das Kind
schlafend am Boden dargestellt ist und von der Mutter dem kleinen
Johannes gezeigt wird, und in der „Madonna di Loreto", in welcher
der Knabe, vorne auf einer Balustrade liegend, erwachend die
Hände zu Maria emporstreckt, hinter welcher Joseph, auf einen
Stab gestützt, zuschauend hervorblickt. Es war das letztere Gemälde,
mit dem Sebastiano in seiner „Madonna del Velo" (in Neapel) zu wett-
eifern suchte. Er ordnete Joseph links und rechts den kleinen sich
vorbeugend auf Christus schauenden Johannes an. Die allgemeinen
Beziehungen zwischen Sebastianos Komposition und dem „Silenzio"
sind nicht zu verkennen, ist auch die erstere ein Halbfigurenbild
und das Kind, wie bei Raphael, vorne auf einer Balustrade. Mehr
als dies aber: es zeigt sich auch in der Haltung des Kopfes und
des Oberkörpers, sowie des linken Armes und der Fingerbewegung
der linken Hand Marias ausgesprochene Ähnlichkeit mit Michel-
angelos Entwurf. Ein Künstler muss von dem Anderen angeregt
worden sein. Könnte es nach Allem, was wir erfahren haben,
zweifelhaft sein, wer der Gebende war? Hier wird, wie mir scheint,
ersichtlich, dass auch für seine „Madonna del Velo" Sebastiano eine
Skizze des Meisters benutzte, der dann seinerseits, von dieser Skizze
ausgehend, das „Silenzio" geschaffen hat. Hierbei aber bleibt es
bemerkenswerth, dass der Ausgangspunkt für die beiden Kom-
positionen Gemälde Raphaels gewesen sind in dem Sinne, dass
Sebastianos Eifer Michelangelo gleichsam zu einer Korrektur der
Schöpfung seines grossen Rivalen veranlasste.
Dies Alles erwogen, erscheint es denkbar, dass der Meister
beabsichtigt hat, das Motiv des Schleierlüftens zu bringen. Der
mehreren vorkommen, sind gewiss nicht Erfindungen eines Nach-
ahmers. Wohl aber erklären sich die von einigen Malern hierin
vorgenommenen Veränderungen leicht als beabsichtigte Abweichungen.
Auch die Andeutung auf die Zukunft in dem Symbol verrinnender
Zeit, das Stundenglas, war in dem Vorbilde. Worüber man im
Zweifel sein kann, ist einzig die Bedeutung der Bewegung von Marias
linker Hand. Wiederum erweist die Übereinstimmung in mehreren
Kopien, dass in dem Original (vgl. die Zeichnung) die Hand Nichts
hielt. Wohl aber begreift man, dass einige Kopisten auf den Ge-
danken kamen, Michelangelo habe beabsichtigt, sie ein Schleiertuch
über dem Kind halten oder lüften zu lassen. War dies des Meisters
Gedanke? Diese Frage führt uns zu der weiteren, in welchem
Zusammenhang die Komposition mit anderen steht.
In einer der uns von betrachteten Studien (s. II, S. 431, Nr. VII)
gewahrten wir den schlafenden Knaben in Marias Schooss. Aber
nicht an sie, sondern an eine Gruppe von Bildern werden wir erinnert.
In zwei Gemälden hatte Raphael das Motiv: Maria lüftet einen Schleier
über dem Kind behandelt: in der „Madonna del Velo", wo das Kind
schlafend am Boden dargestellt ist und von der Mutter dem kleinen
Johannes gezeigt wird, und in der „Madonna di Loreto", in welcher
der Knabe, vorne auf einer Balustrade liegend, erwachend die
Hände zu Maria emporstreckt, hinter welcher Joseph, auf einen
Stab gestützt, zuschauend hervorblickt. Es war das letztere Gemälde,
mit dem Sebastiano in seiner „Madonna del Velo" (in Neapel) zu wett-
eifern suchte. Er ordnete Joseph links und rechts den kleinen sich
vorbeugend auf Christus schauenden Johannes an. Die allgemeinen
Beziehungen zwischen Sebastianos Komposition und dem „Silenzio"
sind nicht zu verkennen, ist auch die erstere ein Halbfigurenbild
und das Kind, wie bei Raphael, vorne auf einer Balustrade. Mehr
als dies aber: es zeigt sich auch in der Haltung des Kopfes und
des Oberkörpers, sowie des linken Armes und der Fingerbewegung
der linken Hand Marias ausgesprochene Ähnlichkeit mit Michel-
angelos Entwurf. Ein Künstler muss von dem Anderen angeregt
worden sein. Könnte es nach Allem, was wir erfahren haben,
zweifelhaft sein, wer der Gebende war? Hier wird, wie mir scheint,
ersichtlich, dass auch für seine „Madonna del Velo" Sebastiano eine
Skizze des Meisters benutzte, der dann seinerseits, von dieser Skizze
ausgehend, das „Silenzio" geschaffen hat. Hierbei aber bleibt es
bemerkenswerth, dass der Ausgangspunkt für die beiden Kom-
positionen Gemälde Raphaels gewesen sind in dem Sinne, dass
Sebastianos Eifer Michelangelo gleichsam zu einer Korrektur der
Schöpfung seines grossen Rivalen veranlasste.
Dies Alles erwogen, erscheint es denkbar, dass der Meister
beabsichtigt hat, das Motiv des Schleierlüftens zu bringen. Der