Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Heidelberger Volksblatt (70) — 1935 (Nr. 1-26)

DOI Heft:
Nr. 71 - Nr. 76 (25. März - 30. März)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.43253#0728
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
NM 4

Donnerstag, den 28. März 1SS8

Nr. 74

Anschließend kam eine Reche von Urkunden
sus den Akten zur Verlssurm. Darunter be-
finden sich zahlreiche Bviefe Geschädigter, d'i«
enttäuschte über die Geldgeschäfte der Vögtle
diese mit Vorwürfen bedenken. Andere wieder
lassen erkennen, daß sie heute noch für die
„fromme Person mit dem Glorienschein" ein-
gestellt sind.
Am Mittwoch, den achten Verhandlnngstag,
erstattete der ärztliche Sachverständige Prüf.
Dr. Gregor sein psychiatrisches Gutachten, in
welchem er zu dem Schluffe kam, daß die Ehe-
leute Vögtle
als voll zurechnungsfähig
anzusehen sind.
Nach einer Mittagspause ergriff Erster
Staatsanwalt Dr. Lienhart das Wort zu
seiner 2Vsstündigen Anklagerede. Er beantragte
gegen die Ehefrau Vögtle eine Zuchthaus-
strafe von vier Jahren und gegen den
Ehemann Vögtle eine solche von zwei
Jahren sechs Monaten
sowie Aberkennung der bürgerlichen Ehren-
rechte. Gegen den Mitangeklagten Meinzer
lautet der Strafantrag aus ein Jahr Gefäng-
nis.
Wie der Vorsitzende mitteilte, wird die
Verkündung des Urteils Freitag
vormittag 10 Uhr erfolgen.

Prozeß Nöglle und Genoffen
Mystifizierte Zerbrechen vor Gericht
Letzte Zeugen / Zuchthaus von 4 brw. 2 Fahren s Monaten beantragt
sich hin. Der Pelzmantel "kam nochmals Zur
Sprache. Als der Gerichtsvollzieher kam, um
ihn wegen rückständiger Gemeindeabgaben zu
pfänden, bedienten sich die Eheleute Vögtle
einer falsche neides st ältlichen Ver-
sicherung, um die Aufhebung der Pfändung
zu erzielen. Das gelairg aber nicht. Den Pelz-
mantel konnte schließlich die Tante des betro-
genen Mädchens ersteigern.
Die weiteren Verhandlungen drehten sich
um einen
Betrug des Ehemannes Vögtle
gegenüber dem Schülerheim Martinsstift
in Mörs (Niederrhem) sowie um ein schwin-
delhaftes Darlehensgesuch gegenüber einer
Bank, wobei der Angeklagte Meinzer beteiligt
war, und um einen Warenkr-M-tbetrug zum
Nachteil eines Karlsruher Kaufmannes, bei
dem die Vögtle für 400 eine Schreib-
maschine lauste, ohne sie zu bezahlen.

Von der Musterung
„Ob wir's taugen, ob wir's taugen —

Karlsruhe, 27. März. Am Dienstag wurden
im Prozeß Vögtle die letzten Zeugen vernom-
men. Verhandelt wurden die Anklagefälle, die
sich aus den
Kauf eines Anwesens in Neumalsch
beziehen. Zunächst wurde ein Landwirt aus
Nenmälsch gehört. Von dem Zeugen bekam die
Angeklagte, die ihm in Aussicht stellte, er könne
dann das fragliche Gut bewirtschaften, einen
Betrag von 3000 sie selber steuerte nur
1000bei. Am 1. November 1934 wurde
ihm gekündigt. Wiederum hörte man von dem
großen Pläneschmieden der Vögtle. Wahrheit
und Demut hätten ihr gefehlt, sagte der Zeuge.
Wenn er um die Finanzierung des Gutes be-
sorgt war, so habe sie, die großartig mit dem
Auto nach Malsch gefahren kam, erklärt, nur
keine Angst, es ist Geld da. Das, was er benö-
tigte und auf Kredit auch kaufte, hatte sie aber
tatsächlich nicht bezahlt. Als der Vorsitzende
im Laufe der Verhandlung auf die Tanzvor-
führungen („Schwingungsstunden") zu sprechen
kommt, entrüstet sich der so interpellierte Zeuge
E. mit den Worten:
„Herr Richter, ich möchte nicht, daß mein
religiöses Empfinden in den Schmutz ge-
zogen wird."
Der Vorsitzende verbat sich natürlich
energisch eine derartige Kritik; derartige ver-
rückte Geschichten hätten mit religiöser U-eber-
zeugung nichts zu tun. Der Zeuge erwähnte
u. a. weiter: „ich bin krank und elend nach
Grötzingen gekommen mrd heute bin ich ge-
sund . . ., durch biblische Ueberzeugung gesuno
geworden."
Für eine Weihnachtsfeier hatte die
Vögtle eine Zeugin beansprucht, indem sie von
ihr für 200 Waren auf Borg nahm. Da-
mit wurde gefeiert, aber bezahlt wurde dieses
frohe Fest nicht. Besonders interessant wurde
die Frage des Persianermantels.
Das Geld dafür war zum Teil von einer ledi-
gen Hausangestellten beigeschafft worden; diese
Wb ihr Sparguthaben in Höhe von 511
ohne einen Schuldschein und ohne jedwede Si-
cherheit dafür zu bekommen. Sie war der Mei-
nung, das Geld finde Verwendung für ein
Altersheim. Natürlich hätte sie, wenn sie ge-
wußt hätte, daß sich die Angeklagte damit einen
Persianermantel für 1850 oH-K leistete, das
Geld nicht gegeben.
Im Laufe der Debatte kam es auch zu einem
kleinen Zwischenfall. Das Gericht bekam Kennt-
nis, daß die Angeklagte die Bemerkung ge-
macht hatte, „die glauben mir doch
nicht s". Auf die Androhung einer Haftstrafe
wegen dieser respektlosen Rede brach die Vögtle
in Tränen aus und weinte eine Zatlang vor

ja ob wir's taugen in's Feld."
Die Wiedereinführung dec allgemeinen
Wehrpflicht lenkt auch den Blick auf die Aus-
hebung und Musterung, die bis 1914 eine Be-
gleiterscheinung des Frühlings war. In jeder
Amtsstadt tagte um diese Zeit eine Ersatzkom-
mission, bestehend aus einem Offizier, einem
Stabsarzt, einem Bezirksfeldwebel, etlichen Un-
teroffizieren oder Gefreiten, dem Oberamt-
mann als Zivilvorsitzenden der Kommission
und seinem Sekretär. Wochenlang zogen die
jungen Burschen ortsweise mit ihrem Bürger-
meister und Polizeidiener, vielfach mit ge-
schmücktem Rossen und Wagen, zur Musterung.
Wem dies Bild noch in Erinnerung ist oder
die Lieder dieser jungen begeisterten Schar noch
nachklingen, dem mag nun wieder wohl ums
Herz werden bei dem Gedanken, daß wieder-
kommt „was einst war".
Der Musterung in der Stadt ging daheim
aus dem Rathaus schon ein wichtiger Akt vor-
aus.
Jeweils am 1. Sonntag im Januar mußten
sich alle Burschen, die das 20. Lebensjahr er-
reicht hatten, zur Stammrolle anmelden. Für
den Dorfburschen hatte dieser Tag schon eine
besondere Bedeutung, denn von jetzt ab zählte
er zu den Ortsburschen. War die Meldung aus
dem Rathaus gemacht, dann kamen die Neu-
angemeldeten mit den zurückgestellten Jahr-
gängen in einer Wirtschaft zusammen, wo mit

Stolz die alten Soldatenlieder gesungen wur-
den. Waren mehrere Wirtschaften im Ort,
dann zog man auch auf der Straße singend
von einer zur andern.
Der Vorabend des Musterungstages war
au-sgefüllt mit Vorkehrungen für den nächsten
Tag, an dessen frühem Morgen zu Fuß oder
Wagen die Reise wieder mit Gesang angetreten
wurde. War im Musternngslokwl die Entschei-
dung gefallen, so eilte der Gezogene gleich zu
den vor dem Hause aufgestellten Ständen, um
sich den Hut mit Bändern und Sträußen
schmücken zulassen. Auch der Zinnschild, auk
dem die Waffengattung stand, zu der der Bur-
sche gezogen, wurde angosteckt.
Weniger Schmuck trugen die Zurückgestellten
und nichts die Freigesprochenen.
Noch heute stehen in Glasschränken aus dem
Lande Rekrutensträuße — von liebenden Mut-
terhänden gehütet — die der Sohu, der nun
in Frankreichs Erde liegt, getragen hat, oder
liegven in der Truhe oder im Schrank bunte
Bänder, die am Musterungstag der Bursche
seinem Schätzlein gab. —
Gemeinsam wurde in der Stadt noch das
Mittagessen eingenommen, später dann die
Heimfahrt angetreten.
Das ganze Dorf nahm beim Einzug Anteil
am begeistertsten war die Jugend — natur-
gemäß die Buben. War im Elternhaus ein
kurzer Besuch gemacht, dann traf man sich wie-
der im Wirtshaus und da ging es dann hoch

«her. Mancher alte Reserve-, Landwehr- und
Landsturmmann rückte von daheim aus und
sang mit den jungen Rekruten um die Wette
An diesem Abend flößen aber auch im stillen
Kämmerlein mancher Dorfschönen die ersten
Tränen um den Abschied, der für den Herbst
mit dem Einrückungstag des Rekruten bevor-
stand.
So war das Soldatentum auf dem Lande
mit dem Volksleben viel inniger verbunden
als in der Stadt. Deshalb war dort auch nach
dem unglücklichen Ausgange des Weltkrieges
eine Lücke, die durch nichts -ausgesüllt werden
konnte. N.

MilliomrMWO m England
Die großen Vermögen werden seltener.
Der letzte Bericht der englischen Steuerbehörde
wirft ein interessantes Bild auf den Rückgang
der großen Vermögen in England, deren Anhäu-
fung in einer Hand früher geradezu charakteri-
stisch für England war.
2n dem Bericht werden die letzten drei Jahre,
von Anfang 1931 bis Anfang 1934, unter die
Lupe genommen, und es ergibt sich hieraus, daß
die Zahl der L-Millionäre in England in die-
ser Zeit uf82 auf 452 gesunken ist. Wäh-
rend im Jahre 1931 nost 95 Prozent mit einem
jährlichen Einkommen von 100 000 L. und darü-
ber gezählt wurden, ist die Zahl der mit Glücks-
gütern so reichlich gesegneten Personen bis En-dS
1933 auf 79 zurückgegangen. Die Zahl der ein-
zelnen Personen, die Jahreseinnahmen zwischen
75 000 L und 100 000 L versteuerten, hat von 59
auf 42 abgenommen. Die Jahreseinkommen zwi-
schen 50 000 L und 75 000 L haben sich von 184
aus 176 und solche zwischen 40 000 L und 50 000
L von 196 aus 155 vermindert. Alle Personen,
die ein jährliches Einkommen von 40 000 L und
darüber haben, gelten als L-Millionäre. Da
diese hohen Einkommen fast durchweg aus Ein-
künften aus Vermögensbesitz beruhen, darf der
Schluß gezogen werden, daß in den Jahren -der
Krise die großen englischen Privatvermögen eine
wesentliche Verminderung erfahren haben.
Gleichzeitig sind auch die Jahreseinnahmen
zwischen 2000 L und 40 000 L merklich seltener
geworden. Die Zahl der Personen in diesen
Einkommen ist seit 1929 bis Ende 1933 von
198 532 auf 54174 zurückgegangen. Die folgende
Tabelle gibt außerordentlich bemerkenswerte
Aufschlüsse über die Verteilung der Jahresein-
kommen zwischen 2000 L und 40 000 L.

Jahreseink.
Zahl d. Pers.
Ges. versteuer-
bares Eink.
in L.
2 000— 2 500
23107
51 176 792
8 goo— 4 000
16 935
58 059 909
5 000— 6 000
5 284
28 867 685
7 OOS- 8 000
2 333
17 455 250
10 000—15 000
3 337
40 243 162
20 000—29 000
545
11 941 621
80 000—40 000
340
11 743 732


sttt-nr ins
Lin sozialer vornan von 8 1 etsn Oltscifi
Oopyal^bt by Kstbolisabs Korrsspoacksnr kUcknitsr i. KörWstr. 36 s

8) (Nachdruck verboten.)
, Es ist bewundernswerk, wie sich Pfarrer N-eu-
kirch in diesen Jahrzehnten der versprengten
Schäflein in dieser Gegend angenommen hat,
mit einer Aufopferung und Liebe, die ihn in
den Ruf eines heiligmäßigen Priesters ge-
bracht haben, nicht allein bei den Katholiken,
sondern auch bei den Andersgläubigen, die ihn
kennen und sehr verehren.
Er ist ein Seelsorger, der dem Elend in
diesem Bezirk, den Unzulänglichkeiten und be-
helfsmäßigen Mitteln, die in einer solchen
Diaspora nicht zu vermeiden sind, seine ganze
körperliche und geistige Lebenskraft gewidmet
hat.
Konrad Dahlhaus, der Vater Bernhard
Dahlhaus, förderte vor sechzig Jahren den
Bau einer kleinen Kirche. Das Gotteshaus
wurde in einem kleinen Park errichtet, in den
es eingebettet zu sein scheint. Mächtige Bäume
stehen dicht nebeneinander, an der Längsseite
des Parkes strömt ein kleiner Fluß dahin.
Ms die Kirche vor sechzig Jahren erbaut
wurde, stand sie noch ein wenig abseits der
Ortschaft, die sich heute zu einem Städtchen
entwickelt hat. Damals war die Gegend noch
ländlich idyllisch. Jene ZeU existierte nur noch
in der Erinnerung. Viele Menschen kamen
in, den Jahrzehnten in dieses Gebiet und
gründeten Wohn- und Heimstätten. Fabriken
und Werke schossen wie Pilze aus dem Boden.
Sie. benötigten Arbeiter, viele Arbeiter. Die
Ortschaft wuchs und dehnte sich aus. Der
Moloch Industrie fraß um sich wie ein gie-
riges Ungeheuer, Land und Menschen in sich
ausnehmend. Es war eine Flut der Massen
vom Land in die Städte, sie ahnten nicht, daß
sie mit den Füßen in ihre eigenen Gräber
schritten. Konzerne und Trusts bildeten sich.
Die Rationalisierung der Betriebe warf Tau-
sende und aber Tausende unbarmherzig auf
die Straße, wo sie dem Hunger und der' Ver-
zweiflung überlassen waren.
Nun stehen viele Werke still. Unzählige
Arbeiter sind b-rot- und arbeitslos geworden.
Der erfinderische Geist des Menschen erfindet
alles, nur nicht das, womik die ungeheure
Rot behoben werden könnte.

Die Mittel für die Errichtung des Gottes-
hauses und dessen Einrichtung wurden durch
Stiftungen aufgebracht. Konrad Dahlhaus
zeichnete an erster Stelle einen großen Be-
trag, wodurch die Vollendung des Gottes-
hauses gesichert wurde. Es gab nur wenige
wohlhabende Katholiken in der Gegend, die
meisten gehörten dem Arbeiterstand an. Aber
die Gläubigen des Ortes hatten durch einen
großen Opfermut erreicht, daß nunmehr in
ihrer eigenen Kirche die hl. Messe gelesen
wurde.
Seit Jahrzehnten ist jede Woche einmal die
Villa Dahlhaus das Ouarti-er des Pfarrers.
Es weiß niemand, daß es emmal anders ge-
wesen ist. Pfarrer Neukirch fühlt sich hier
ganz wie zu Hause, man hegt und Pflegt ihn
wie ein liebes Glied der Familie.
Er hat sich trotz seines arbeitsreichen und
mühseligen Lebens eine frohlaunige Natur
bis auf den heutigen Tag bewahrt. Wer ein
Miesmacher ist, kann keine verzweifelten
Kreaturen aufrichten — wer selbst an Schwer-
mut leidet — kann keine seelisch erkrankten
Menschen heilen, pflegt er zu sagen.
Als an diesem Abend der Pfarrer im Kreise
der Familie Dahlhaus speist, merkt man ihm
zum ersten Male eins bedrückte Stimmung
an. Seine immer gütigen und für sein Alter
noch klarleuchtenden Augen sind trübe. Er
versucht offensichtlich, eine innere Erregung
zu verbergen. Nachdem die Tafel aufgehoben
ist, und Mutter und Tochter sich noch beschäf-
tigen, unterbricht Pfarrer Neukirch plötzlich
das Gespräch, das sich um alltägliche Dinge
drehte, und sagte:
„Sie werden entschuldigen, wenn ich mich
heute Abend ein wenig früher als gewöhnlich
zur Ruhe begebe, Herr Dahlhaus. Aus unse-
rem Schachspiel wird diesmal sowieso nichts
Rechtes werden. Ich bin, um es offen zu sa-
gen, nicht für das sonst bei meiner Anwe-
senheit übliche Spiel disponiert. Es tut mir
sehr leid."
„Fühlen Sie sich nicht Wohl, Hochwürden?"
„Ach, das Alter, Sie werden verstehen, ich
batte vorhin auf der Straße einen leichten
Schwächeanfall. Ich glaube, das kommt voM

Herzen, das nicht mehr so recht will, wie ich
ihm befehle. Vielleicht trägt auch das Wetter
die Schuld an meinem nicht ganz guten Be-
finden. Es ist sehr unfreundlich draußen."
„Ihre seelsorgerischen Pflichten überstei-
gen das Maß Ihrer Kräfte", entgegnet Dahl-
haus mit Wärme und Mitgefühl. „Ich wollte
Ihnen das schon immer sagen."
Der Priester schweigt eine Weile. Sinnend
blickt er auf seine hagere welke Hand, die auf
dem Tasch liegt. Dann erwidert er leise und
gerührt:
„Es offenbart sich die -große Tragik unseres
Lebens, wenn wir erkennen und verspüren
daß der Körper versagt — -wenn wir das Ziel,
das wir uns setzten, noch in ganz weiter Ferne
seihen und es so unerreichbar scheint. Welches
Stückwerk, was wir leisten! — Was lassen
wir zurück? — O wie klein ist das alles, wie
unfertig .... Man hat kaum begonnen.
Wir sind schwache arme Menschen! . . ." Die
Augen des greifen Seelsorgers werden feucht.
Dahlhaus, der sich immer auf die Stunden
der Anwesenheit des Priesters freute, weil
dieser die einzige Persönlichkeit außerhalb
seines Familienkreises ist, mit der er sich über
tiefgründige philosophische, konfessionelle und
schöngeistige Probleme unterhalten aknn, weiß
im Moment nicht, was er zu den Worten des
Pfarrers -sagen -soll. So, wie er nun vor ihm
sitzt, bat er ihn noch nicht gesehen.
„Nun bin ich über vierzig Jahre in dieser
Kirchenaeme-ind-e als Seelsorger tätig", be-
ginnt Pfarrer Neukirch wieder. „In Dorst-
feld sind kaum zweihundert Katholiken. Seit
meinem Hiersein sammelte ich -dort für einen
Kirchenb-au. Als ich fast vor meinem Ziele
stand, kam die Inflation und machte das er-
sparte und — fast mit Pfennigen zusammen-
getragene Vermögen wertlos. Ich sammelte
wieder eifriger noch äls vorher, hielt Kollek-
ten ab. Die biederen Dorstfelder unterstützten
mich nach bestem Können. Es bildete sich im
Volksverein eine Theatergruppe, sie studierte
die Passion ein und zog von Ort zu Ort. Der
Erlös floß in den Kirchenfonds. Ja, wenn ich
noch zehn Jahre älter würde, dann erlebte
ich vielleicht die Verwirklichung meines Pla-
nes. Ich zelebriere jetzt dort die hl. Messe
des Morgens in einem Tanzsaal, in dem des
Nachmittags von Freisinnigen und Anders-
gläubigen Bälle und Feiste veranstaltet wer-
den. Gr ist der «innige Raum» der mir für

den Gottesdienst zur Verfügung steht. In
Gertwig lese ich die Messe in einem Schul-
saal, meine Pfarrkinder kommen in Wind
und Wetter von weit her, nach dort wie auch
nach hier. Ich habe — -diese Woche noch keine
Ruhe bekommen . . . Das üble Wetter wirft
viele aufs Krankenlager. Nächte war ich unter-
wegs. Zwei Kranke sind gestorben — ohne
geistlichen Beistand. Ich konnte nicht gleich-
zeitig bei mehreren verweilen, konnte nicht
überall sein, wo ich benötigt wurde. Der
Distrikt ist zu groß und die Verkehrsmittel,
soweit sie der O-effentlichkeit dienen können,
reichen für solche Fälle nicht aus. Wenn ich
noch ein -Auto hätte . . . Aber ich alter Mann
könnte ja keinen Wagen mehr steuern. Und
wer wollte einen Chauffeur entlohnen? Nein,
ich habe wirklich meine Kräfte überschätzt.
Vielleicht bin ich auch ein wenig erkältest ich
weiß es nicht. Ich habe Schmerzen auf der
Brust — in allen Gliedern . . ."
„Hochwürden", sagt Dahlhaus nun, „Sie
müssen sich um eine Vertretung bemühen.
Das geht ja so einfach nicht weiter."
„Mein Freund, wir haben einen großen
Mangel an Priestern. Dann: diejenigen geist-
lichen Herren, die die Verhältnisse in..der
Diaspora kennen und mit ihnen vertraut sind,
wirken selbst in der Diaspora und sind daher
unabkömmlich.
Ich habe insgesamt über zweitausend Katho-
liken in meiner Pfarrei, ich kenne sie alle, ihre
Nöte, ihre Hoffnungen, ihre Sorgen . . . Sie
wissen, -daß ich mit ihnen und für sie lebe. Ich
weiß, wo sie zu finden sind, wo sie wohnen,
weiß, wie ich sie unserm Herrgott erhalten
kann. Es ist nicht leicht, als Seelsorger einen
Katholiken zu betreuen, der täglich in seiner
Umgebung mit vielen Menschen, -die keinen
Glauben mehr haben, in zwangsläufigem Ver-
kehr steht, dem viele Presseorgane mit athei-
stischen Tendenzen vor Augen kommen. Ich
habe mich- in die Menschen, die zu meiner
Pfarrei zählen, sozusagen eingelebt, sie glau-
ben an mich und an meinen Gott, weil sie
nie irre an mir wurden, und sie sehen in
mir -den Priester, der sich selbstlos in den
Dienst Gottes gestellt -hat. Alle diese meine
Psarvkin-der sind in den Jahrzehnten ein
-Stück von -mir selbst -geworden, sie -gehören
zu mir und ich liebe sie, als wenn es msme
Kinder seien.
(Fortsetzung folgt.)
 
Annotationen