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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 12.1932

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Heft 2 (Februar 1932)
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Müller, F.: Was lehrt uns die ägyptische Flachbildkunst?
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https://doi.org/10.11588/diglit.28170#0034

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Güttin dos Westens der Arm der Göttin, welcher
Ositis umfaßt, so gelegt ist, daß diese Linie mit an-
dern Linien der Gruppe im gleichen Rhythmus ver-
läuft und die Linie des Haares dazu einen Gegenzug
bildet, so fäll) das ebenfalls nicht auf, wir empfinden
nur die schöne Geschlossenheit der Gruppe. Auch der
ägyptische Künstler wird sich seiner Gestaltungsmaß-
nahrnen kaum bewußt gewesen sein; er hatte eben
den Rhythmus inwendig und mußte ihn ausdrücken.
Deshalb hatte ihn die Verwendung der reinen Natur-
form sicher gestört, das wäre seiner seelischen Struk-
tur zuwider gewesen. So sehen wir, daß der Ägypter
die Naturform zwar beherrscht, sie aber in den Bil-
dern, auch in denen, die er freier gestalten durfte,
nur im Nebensächlichen oder in Einzelheiten anwendet,
nicht im großen Gerüst, nicht im Aufbau. Ich erwähnte
schon die naturalistischen Gipsmasken aus der Amar-
nuzeil. Sie zeigen, daß der ägyptische Bildhauer sich
nicht nur naturalistische Vorbilder für seine Arbeiten
zu verschaffen wußte, sondern auch, soweit diese
Masken augenscheinlich nach Bildwerken abgeformt
sind, durchaus sinnlich naturgetreu bilden konnte.
Aber er hat doch immer, selbst wenn er den Gesich-
tem Porträtzüge gab, in den ausgeführten Werken vor-
nehm stilisiert, wie es der Gesamtaufbau erforderte.
Das bringt uns auf die Frage, wie denn überhaupt
der ägyptische Künstler die Natur beobachtet habe.
Hat er sie nur betrachtet oder hat er auch unmittelbar
nach ihr gezeichnet und geformt? Daß er nach ihr
geformt hat, dürften die Masken bereits beweisen,
leider fehlen uns von denjenigen Masken, die nach


Antilope. Aus einem Relief des Tolentenipels Sahure. Dorgeslellt eine
Holjütjd. Der König erlegt mit dem Bogen die in einem Gehege zu-
sammengefriebenen Tiere. Um 2700 v. Chr.
Bildhauerwerken abgeformt zu sein scheinen, die
zugehörigen Originale, weshalb man in dieser Frage
noch etwas unsicher dasteht. Uber das Zeichnen nach
der Natur aber könnten die zahlreichen Scherben
Aulschluß geben, die gefunden worden sind, und


Aus einem stark beschädigten Grabrelief (Kalkstein). Die Figuren
. s Reliefs sind nur wenig erhaben und fein modelliert. Aus Theben.
Um 1600 v. Chr.

wovon das Berliner Museum eine stattliche Anzahl
aufbewahrt. Es sind Tonscherben von zerbrochenen
Gefäßen und Splitter von schieferigem Kalkstein, die
beide als Ersatz für den teuren Papyrus dienten, und
auf denen die Künstler mit der Schreibbinse, der
Rohrfeder und dem Pinsel ihre Studien und Entwürfe
zeichneten. Die meisten Zeichnungen sind augen-
scheinlich Versuche aus der Gesamtvorstellung, aber
es gibt auch einige, die sehr deutlich an eine Natur-
studie erinnern. Wenn nämlich die Zeichner das Ab-
bild eines lebenden Tieres — denn um solche handelt
es sich in unserm Falle — herstellen wollte, so ließ
er sich, der an vorstellungsmäßiges Schaffen gewöhnt
war, zwar auch durch seine Formvorstellungen und
sein rhythmisches Gefühl leiten, aber es kam, indem
er auf das sich bewegende Vorbild blickte, in seine
Arbeit leicht etwas Unrhythmisches, und sei es auch
nur die störende Unterbrechung eines schon begon-
nenen rhythmischen Zuges wie z. B. an dem Hals eines
Ibis. Das legt dann dem Kunstpsychologen die Ver-
mutung nahe, daß es sich hier um eine Naturstudie
handeln könnte. Auch eine ungewöhnliche Haltung
des Tieres, die in den ägyptischen Bildern sonst nicht
vorkommt, könnte darauf hinweisen. Ich glaube auf
den Kalksteinsplittern (bei denen es sich doch nicht
um Dekorationen handeln kann wie etwa bei den
Topfscherben) einige solcher Zeichnungen gefunden
zu haben und möchte aus Ihnen entnehmen, daß die
ägyptischen Künstler gelegentlich auch nach der Na-
tur gezeichnet haben, was ja bei der Naturtreue ihrer
Darstellungen psychologisch verständlich wäre. Aller-
dings war das Zeichenmaterial, das sie besaßen, sol-
chen raschen Studien nicht förderlich, weshalb diese
wohl auch nur sehr vereinzelt geschahen, was schon
aus der geringen Zahl der Scherben dieser Art her-
vorzugehen scheint.
Mehr aber, als der Sinn des Auges, spricht aus den
ägyptischen Flachbildern der fein entwickelte Tast-
sinn dieses Volkes. Wir wissen, daß man ein Ding auch
mit den Augen abtasten kann; aber aus den ägyp-
tischen Flachbildzeichnungen spricht doch mehr der
Tastsinn durch das Mittel der Hand und des ganzen
Körpers. Wir müssen uns gegenwärtig halten, daß
jeder Muskel des Körpers, wie überhaupt jedes Teil-
chen des gesamten menschlichen Organismus, dem
allgemeinen Tastsinn dienstbar ist. Daraus ergibt
sich ein allgemeines Körpergefühl, das mit der
seelischen Funktion der Formempfindung eng zu-
sammenhängt. Es gehört in diesen Zusammenhang
auch das Gefühl für Schwere, Gleichgewicht, Festig-
keit und für den Rhythmus, welche Momente beim
bildhaften Schaffen immer mitsprechen. Das all-
gemeine Körpergefühl, das angeboren und im ur-
sprünglichen Sinne des Wortes „erlebt" wird, schafft
erst recht eigentlich das Formengedächtnis, das man
mit Unrecht als eine ausschließliche Domäne des Ge-
sichtssinnes zu bezeichnen gewohnt ist. Es berichtigt
die Gesichtswahrnehmungen uno ergänzt sie durch
solche Wahrnehmungen, die zu gewinnen dem Ge-
sichtssinn nicht möglich ist. Die durch das allgemeine
Körpergefühl gewonnenen Formempfindungen bleiben
in der Regel dem wachen Bewußtsein verborgen,
weshalb man geneigt ist, sie als nicht vorhanden an-
zunehmen. Daß sie aber dennoch vorhanden und im
Unterbewußtsein wirksam sind, zeigt ihr Hervortrelen
bei der Bildgestaltung. Hierbei werden die Muskel-
erlebnisse, die ursprünglich die Formempfindung er-
zeugten, mit Hilfe der Phantasie reproduziert, und
dabei die mit ihnen assoziierten Formempfindungen
wirksam gemacht. Daher sehen wir z. B. an größeren
Schülern, die Sport treiben, daß sie Körperbewegun-
gen, die sie niemals an sich und nur unvollkommen an
andern gesehen haben können, ziemlich richtig zeich-
nen. Hier hilft ihnen ihr allgemeines Körpergefühl, und
sie verstärken dieses, indem sie die betreffenden Be-

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