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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

DOI Heft:
Heft 22 (2. Augustheft 1903)
DOI Artikel:
Gregori, Ferdinand: Die Entwicklung der Kulisse, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0578

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an. Jch fürchte, daß er die Versenkbühne des Burgtheaters gar nicht
kennt, sonst könnte er nicht gar so begeistert von seiner Bühne reden.
Er verumständlicht das Wiener Prinzip, das einer Vereinfachung harrt.
Blieben bisher die Vorderrampen, der Bühnenmantel, die Kulissen-
ständer, der Schnürboden von der Ambulanz der versenkbaren Bühnen-
teile unberührt, so bezieht sie Schmidt mit ein. Seine „Jdealbühue"
besteht aus vier vollständigen, selbständigen Bühnenanlagen, und zwar
stellt er die erste uud zweite in Bühnenhöhe, die dritte nnd vierte
in Schnürbodenhöhe hintereinander auf. Nuu wechselt cr diese un-
geheuren geschlosseuen Würfel durch Heben und Senken aus. Ob
sich dabei ein nie versagender Betrieb ermöglichen ließe, bleibe dahin-
gestellt. Am Burgtheater hat man der größeren Sicherheit wegen
eine dreifache Bedienung des Roll-, Hebe- und Senkapparates ein-
gerichtet: es arbeiten hydraulische Pressen, Dynamomaschinen, und
wenn beide versageu greift die Mcnschenhand ein. Solche Sicherungen
dürften den enormen Lasten der Schmidtschen Bühne gegenüber kaum
zu beschasfen sein. Was soll aber vor allem die nutzlose Erhöhung
der Baukosten durch vierfache Beleuchtungsanlagen? Jn zwei Sekun-
den sind ja heute die verwickeltsten Lichteffekte einzustellen, auch wenn
die Beleuchtungsanlage allen Dekorationen gemeinsam ist. Und
wieviel Theaterarbeiter müßten angestellt werden, um vier Bühnen
zu überwachen! Alle Vorteile, die Schmidt anführt, sind in Wien
und Münchcn bereits erreicht ohne seinen Kostenaufwand. Und mein
Theatermeister Bretschneider, der in Wien und Budapest die Versenk-
bühne eingerichtet hat, macht mich darauf aufmerksam, daß Schmidts
vier eisengepanzerte feuersichere Kolosse wegen ihrer Schwere nur sehr
behutsam ausgewechselt werden könnten, daß also die Beschleunigung
des Szenenwechsels illusorisch sein würde.

Diese unpraktische Weiterführung eines guten Prinzips scheint
mir ein beredtes Zeichen dafür zu sein, daß die Entwicklung der
Kulisse sich der Dscadence nähert. Das Bestreben, alles Jllusions-
störende aus der Welt zu schaffen, ist an einen toten Punkt
gekommen. Die technischen Anstrengungen stehen kaum noch im
rechten Verhältnis zu den künstlerischen Wirkungen. Für irgend eine
winzige Szene, die weder für den Gang des Stückes noch auch an
sich viel zu bedeuten hat, werden Berge versetzt. Jch habe das Gefühl,
als sei es gerade jetzt an der Zeit, der peinlichen Behandlung der
Kulisse Einhalt zu gebieten, damit das Aeußere nicht das Jnnere
crdrücke. Um Stimmung hervorzurufen, bedarf es noch mehr der
wohlgestimmten Rede und des wohlbedachten Spiels, als des wirk-
lichen Sandes, der sich am Boden „kräuselt". Eiu Bühnenwald wird
nicht erst durch lebende Bäume glaubhaft; die hindern den Darsteller
nur an der freien Entfaltung der Geste, scin Kostüm bleibt an den
Zweigen hängen, er verletzt sich an den Tannennadeln, und sein
Sprechton, der für den Zuschauerraum bestimmt ist, verfängt sich schon
in der naturalistischen Dekoration. Ein Kunstwerk kann natürlich wirken,
vhne sich alle Mittel von der Straße zu holen. Die Kunst hat ihre
eigenen Naturgesetze, und so ist auch die Kulisse auderen Gesetzen unter-
worfen als der Grunewald oder meine Arbeitsstube. Und diese nötige
Umwertung der Natur überwacht der geschmackvolle und verständige
Bühnenleiter. Ferdinand Gregori.

2. Augustheft ty05
 
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