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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 23 (1. Septemberheft 1903)
DOI Artikel:
Volkmann, Ludwig: Sprechsaal: nochmals Langes Illusionsästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0631

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der Wirklichkeit gar nicht als „störend" empfunden werden, während
andere ganz geringfügige Abweichungen ganz unerträglich erscheinen
und jegliche Jllusion verhindern. Hier scheint mir gerade Lange zu
wenig zu unterscheiden und eine Reihe sehr verschiedenartig zu be-
wertender Erscheinungen in einen Topf zu werfen. Jch bin auf diese
Frage nicht näher zu sprechen gekommen, habe aber in meinen Aus-
führungen in bewußter Absicht und aus leicht einleuchtenden Gründen
grade gewisse schauspielerische Gepflogenheiten als Beispiele für
Jllusionsstörungen auf der Bühne gewählt. Anzunehmen, ich hätte
sie schlechthin mit dem „identifiziert", was Lange unter dem weiten
Begriff der illusionsstörenden Momente zusammenfaßt, dafür lag auch
nicht der Schatten eines Grundes vor.

Noch gegen manche andere Unterstellungen Langes müßte ich Ver-
wahrung einlegen. Aber ich glaube nicht, daß damit auch nur einem Leser
des Kunstwarts gedient ist. Dergleichen Festnagelungen relativ neben-
sächlicher Mißverständnisse wirken mehr verwirrend und ziehen die
Aufmerksamkeit von der Hauptsache ab. Den Kern meiner Polemik
gegen Lange erblicke ich aber in folgenden Punkten:

1. Jch halte seine „Pendeltheorie" für eine pshchologische Kon-
struktion, die mit der Erfahrung nicht übereinstimmt.

2. Jch halte seine Fragestellung nach dem „Lustwert" der Kuust,
insbesondere des Häßlichen und Traurigen, für verfahren, vor allem
deshalb, weil Lange mir den Begriff der Lust unkritisch zu hand-
haben scheint. Das Häßliche kann hier ausgeschaltet werden, da es
ja „interessant" und insofern in jedem Wortsinn „lustvoll" sein kann.
Als „Gedanke der Natur" aufgefaßt ist auch das häßlichste Menschen-
antlitz reizvoll zu betrachten. Jm übrigen ist zwischen den sehr ver-
schiedenen Bedeutungen des Ausdrucks „Lust" zu unterscheiden. Faßt
man den Lustbegriff sehr hoch und weit, dann ist es ja eine Binsen-
wahrheit, daß wir in letzter Linie immer Lust erstreben, auch dann
z. B., wenn wir uns gedrängt fühlen, dem Leichenbegängnis cines
Freundes beizuwohnen. Fassen wir den Lustbegriff aber niedriger
und enger, nehmen wir den Ausdruck im gewöhnlichen Wortsinne,
etwa in der Bedeutung „Vergnügen", dann ist es sinnlos zu sagen, es
sei „lustvoll",die Rede am Grabe eines Freundes anzuhören. Jch betone
ausdrücklich diese selbstverständlichen Dinge, um nicht in den Verdacht
zu geraten, als leugne ich die Berechtigung, auch bei Tragödien von
einem Kunstgenuß zu reden. Ein solcher findet in mehr als einer
Hinsicht statt. Nur ein „unmittelbarer Lustwert", wie ihn Lange
annimmt, der gleichsam als Lockmittel dient, auch erschütternde
und ergreifende Eindrücke schmackhaft zu machen,* erscheint mir
ebenso banal wie überflüssig. Denn daß wir gerne Tragödien auf-
suchen, ist mir ebenso wenig unfaßbar, wie daß wir nns oft ge-
drängt fühlen, Zeremonien beizuwohnen, die schmerzliche Gefühle ent-
fachenf oder die Tatsache, daß grade tiefer angelegte Naturen sich
nicht beeilen, tragische Erlebnisse möglichst rasch zu vergessen.

3. Jch halte daher auch Langes Stellung zum Jnhalt für
verfehlt. Freilich ist's nicht leicht, sich über diese Frage mit

* Man vergleiche sein schönes Gleichnis mit dem Zucker!

§98 Runftwart
 
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