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Verein für Historische Waffenkunde [Hrsg.]
Zeitschrift für historische Waffen- und Kostümkunde: Organ des Vereins für Historische Waffenkunde — 5.1909-1911

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8. Heft
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Schneider, Rudolf: Die Geschütze des Mittelalters
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https://doi.org/10.11588/diglit.39947#0254

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Die Geschütze des Mittelalters
Von Rudolf Schneider, Heidelberg

Die heutigen Bearbeiter der mittelalterlichen
Kriegsgeschichte sind völlig darüber einig,
dafs die antiken Torsionsgeschütze
die Völkerwanderung überdauert
haben und bis zur Zeit der Pulvergeschütze
bekannt und auch noch in Gebrauch waren. Diese
Übereinstimmung ist aber nur dadurch erreicht
worden, dafs die Vertreter der einzelnen Diszi-
plinen: der Kriegswissenschaft (Max Jähns), der
Geschichte (Gustav Richter) und der Germanistik
(Alwin Schultz) sich unbedenklich an den Ge-
neralmajor G. Köhler angeschlossen haben, der
in seinem dreibändigen Werke „Die Entwicke-
lung des Kriegswesens und der Kriegführung in
der Ritterzeit“ (Breslau 1886) mit grofser Energie
diese Meinung vertritt. Man hat es offenbar seit-
dem ganz vergessen, dafs früher ein bedeutender
Artillerist und kenntnisreicher Historiker, der,
Kaiser Napoleon III., mit sehr gewichtigen
Gründen dargelegthatte,dieTorsionsgeschütze
seien mit der Völkerwanderung zugrunde
gegangen1); und man hat sich augenscheinlich
durch Köhlers Verdikt verblüffen lassen I. S. VII:
„So glänzend das Werk Napoleons III. sich aus-
nimmt, ebenso oberflächlich ist es.“ Andere
haben anders geurteilt. Das preufsische Kriegs-
ministerium hat dasselbe Werk ins Deutsche über-
setzen lassen,und der Übersetzer Herrn, v.Müller
zitiert aus der Allg. Militärzeitung- (3. Dez. 1853)
folgendes: „sein Werk, das die sorgfältigsten
historischen Nachforschungen, die so schwierige
Kunst, die Vergangenheit in ihren Details zu
prüfen, die so seltene Vereinigung der Wissen-
schaft und der Gelehrsamkeit mit der Kraft des
Geistes und der Sicherheit der Schätzung, kurz
alle Eigenschaften des Schriftstellers und
des Denkers erforderte“. Dieses Urteil der
Militärs, geschrieben zu einer Zeit, wo Moltke,
Roon, Brandt, Goeben und andere hochbedeutende
Männer in der militärischen Literatur herrschten,

’) Etudes sur le pass6 et l’avenir de l’Artillerie. Li£ge
1847 et Paris 1851.

hätte allein schon es verhindern müssen, dem
heftigen Gegner Napoleons blindlings zu folgen.
Aber es handelt sich hier nicht blofs um eine
literarische Ungerechtigkeit, sondern um die Ent-
scheidung einer für die Kriegsgeschichte aufser-
ordentlich wichtigen Frage. Denn das Bild eines
Belagerungskrieges fällt anders aus, je nachdem
dabei Artillerie verwendet wird oder nicht, da
ja schon eine geschicktere Ausnutzung der Ge-
schütze, oder eine Verbesserung des Geschützes
oder des Geschosses nachweislich bedeutende Vor-
teile für den Belagerer oder Verteidiger gebracht
hat. Und da Köhler den alleinigen Gebrauch
der antiken Torsionsgeschütze bis zum Jahre
1200 ausdehnt — von da an seien Hebelgeschütze
aufgekommen, die durch ihre Überlegenheit mehr
und mehr die Oberhand gewonnen hätten —
Napoleon aber den Untergang der Torsions-
geschütze fast um acht Jahrhunderte früher an-
setzt, so fallen also in die strittige Zeit: die
Heereszüge Karls des Grofsen, die Kämpfe,
die Friedrich Barbarossa um den Besitz der
Städte in Norditalien führte, und die Kreuzzüge
bis zur Belagerung von Akkon (1189 —1191) d. h.
lauter Begebenheiten, wobei die Artillerie so sehr
in Betracht kommt, dafs sie oft geradezu unver-
ständlich werden, wenn man die Art und die
Leistungen der Geschütze nicht kennt. Aus diesem
Grunde mufs die Entscheidung zwischen Napoleon
und Köhler mit allen Mitteln versucht werden;
und die vorhandenen Quellen reichen zum Glück
auch aus, um das Endurteil auf unanfechtbare
Grundlage zu stellen.
Der Hauptzeuge für die Hebelgeschütze ist
Aegidius, aus der Familie der neapolitanischen
C'olonna entstammt, aber gewöhnlich nach seinem
Geburtsorte Romanus zubenannt. Er kam in
jungen Jahren nach Paris, wurde ein Schüler des
heil. Thomas von Aquino und erwarb sich im
Zeitalter des XIII. Jahrhunderts, das durch Ge-
lehrsamkeit und Vielwisserei obenan steht, durch
seine Vorträge und überaus zahlreichen Schriften
den Ehrentitel „doctor fundatissimus“. So wurde

Noch vor der Veröffentlichung des ersten Kapitels der grofsen Arbeit W. Gohlkes über das „Geschützwesen
des Altertums und Mittelalters“ im 7. Heft dieses Jahrgangs ging der Schriftleitung der vorliegende Aufsatz des als Kenner
der in Betracht kommenden Materie rühmlichst bekannten Verfassers zu. Ihr Abdruck schien umsomehr im Interesse
der Leser der Zeitschrift, als die hier angestellten Untersuchungen zu Ergebnissen führen, in deren Lichte die weitere
Behandlung der für das Verständnis des mittelalterlichen Kriegswesens unendlich wichtigen Fragen, wie sie von W. Gohlke
zu erwarten ist, auf besonderen Anteil rechnen kann. Es steht zu hoffen, dafs sich noch andere Fachleute an dieser
Stelle zu dem Gegenstand äufsern werden. Die Wiederholung einiger, schon im 7. Heft gebrachten Abbildungen in
gröfserem Mafsstabe schien bei der Bedeutung der Forschungen geboten. — Im Zusammenhang hiermit gewinnt auch
die nachfolgende sorgfältige Studie eines Fachmannes wie B. Rathgen über ein Kapitel aus der Geschichte der antiken
Artillerie mehr als gewöhnlichen Wert. Die Schriftleitung.
 
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