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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 11.1895-1896

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Pietät in der bildenden Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.12003#0168

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Im Wartesaal. von Josef tNatiegzeck.

Metät in der üitdenden Aunst.

er altert gern, man muß sich drein ergeben, das einz'ge Mittel ist's, um lang zu leben." Dieses paradox
klingende und doch so wahre Wort des Dichters fällt uns ein, wenn wir uns anschicken, über die Pietät
in der bildenden Kunst unsre Meinung niederzuschreiben. Man spricht so oft von dem Recht des Alters,
d. h. von dem ihm zugebilligten, aus Anstand oder aus Pietät ihm zuerkannten Vorrecht. Man huldigt dem Meister,
und man ehrt den Altmeister — aber leider gar zu oft nur mit hohlen Worten. Schließt sich das Auge eines
großen Künstlers, so erinnern Nekrologe an die Verdienste des Entschlafenen, und durch die Aufzählung seiner
Werke wird erklärt, woher der Lorber kommt, den die Nachwelt um seine Stirne zu flechten hat, selten nur
liegt der Kranz auf der Totenbahre, von der dankbaren Mitwelt gespendet. Es ist, als ob in der Kunst dem
Schaffenden erst dann das Ehrenrecht unvergänglichen Ruhmes zuerkannt wird, wenn er mit dem zeitlichen
Leben abgeschlossen, dem Forscher und Kunstkritiker ein abgerundetes Werk hinterläßt. Das Wort Pietät — jedem
geläufig, allen verständlich, erklingt überall, auch in der Künstlerwelt, aber gerade da wird es am meisten
mißbraucht. Pietät üben an den Lebenden bringt Gewinn und fördert Kraft — wer sie Toten spendet, hat
günstigenfalls die löbliche Absicht, Versäumtes nachzuholen, meistenfalls aber das Verlangen, durch ihn
von sich reden zu machen. Wir müssen zu der traurigen Erkenntnis kommen, daß wir in der Beurteilung
lebender Künstler verschlossener sind, als es unsre Vorfahren waren. Und wenn wir uns einbilden, im Laufe
der Zeit tiefer in das Verständnis der Kunst eingedrungen zu sein, so müssen wir uns eingestehen, daß wir
über alles Studieren der Werke, das Studieren der Meister und damit die Würdigung derselben vernachlässigt
haben. Wir leben in einer sonderbaren Zeit. Wir graben das Alte aus und begraben das Neue. Was um uns ist, hat nur
Reiz, wenn die Genialität durch Absonderlichkeit wirkt. Das Normale, im Strome der knnstgeschichtlichen Entwickelung
Schwimmende findet keine Beachtung, wenn es nicht das Glück hat, an einen Stein zu kommen, den man den Stein
des Anstoßes zu nennen Pflegt — wir erinnern an Graes. — Das Wort „antik" hat einen unglaublichen Reiz — ein
Bild, ein Kunstwerk aus alter Zeit wird mit nachsichtsvollem Blick geprüft, der Staub des Alters giebt dem
Ding den Wert: Unter den Sammlern finden wir weit mehr Verehrer alter Bilder als neuer. Nicht der
Wert ist hier maßgebend — es wäre thöricht, zu behaupten, daß unsre Kunst bestimmten Perioden der
alten Kunst auch nur annähernd gleichkäme — nein, die fixe Idee leitet die Leute, im Alter die stabilste

Die Kunst für Alle XI, 9- I- Februar 1896. 17
 
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