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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 11.1895-1896

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Haack, Friedrich: Giovanni Segantini
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https://doi.org/10.11588/diglit.12003#0473

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Oon F. 6aack.

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mit dem Pinsel nmzugehc» versteht?! — Und doch gehört Segantini wie Max Klingcr und Walter Crane zu
denjenigen Künstlern, welche das tiefe, innere Bedürfnis fühlen, ihre künstlerische Überzeugung nicht nur mit
Werken, sondern auch mit Worten zu vertreten.*) Er ist ein überzeugter Anhänger, aber kein engherziger
Fanatiker der modernen Kunstrichtung. In begeisterten Worten preist er Michel Angelo, dessen Werke noch
lebendig zum menschlichen Herzen sprechen werden, wenn diejenigen von tausend anderen Bildhauern längst
vergessen sein werden. — Segantini hegt die erhabensten und edelsten Anschauungen von seinem Beruf. Er
schätzt am Kunstwerk nicht nur die äußere Mache, sondern vor allem den intellektuellen und persönlichen
Inhalt. Den Medaillcn-Jägern und Geldmachern, die den gemeinen Instinkten des geistigen Pöbels schmeicheln
und dessen niedriges Empfindnngs-Nivean dadurch noch mehr Herabdrücken, stellt er den wahren Künstler
gegenüber. Dieser hegt eine tiefe, eine unendliche und vor allem eine aufrichtige Liebe für die Kunst und
für die Natur, für das Leben, für den Menschen, für die Tiere, für das Wasser, für den Himmel, für die
Ebene, für die Hügel, für die Berge, für die Felsen, für jede Blume und für jeden Grashalm. Auf sein
künstlerisches Ideal konzentriert er jede Empfindung und jeden Gedanken. Die Kunst muß auf empfängliche
Menschen Eindruck machen. Läßt sie den Beschauer kalt, so hat sie keine Daseins-Berechtigung. Ein Kunst-
werk ist umso fähiger, Empfindungen in den Seelen anderer zu erwecken, je tiefer und je reiner es selbst von
seinem Schöpfer empfunden ward. Eines jeden Kunstwerks erster Ursprung ist in dem Geiste des Künstlers
zu suchen, und cs kommt für ihn alles darauf an, den gewaltigen Eindruck, so wie er ihu im Augenblick der
Begeisterung empfangen hat, in lebendige Form nmzusetzcn. Dazu bedarf es der höchsten Anspannung aller
Kräfte. Der Pinsel, der über die Leinwand eilt, muß dem Willen des Malers gehorchen. Dann entsteht das
vollkommene Kunstwerk, das von innerem persönlichen Leben durchdrungen ist: das ist Inkarnation des Geistes
in der Materie, das ist Schöpfung. — Wer ein solches Werk mit empfänglichem Auge betrachtet, dem wird
die fieberhafte Leidenschaft, die den Künstler während des Schaffens beseelte, in die eigene Seele übergehen.
Der Schöpfer eines solchen echten Kunstwerks wird demnach nicht nur seinen eigenen Geist, sondern bisweilen
auch diejenigen anderer vervollkommnen. Wie steht es nun heutzutage mit solchen Künstlern, ihren Erfolgen
und ihrer Beurteilung? — Bei der Kritik der modernen Kunst wird hauptsächlich der Fehler gemacht, dieselbe
wie eine fertige Erscheinung zu beurteilen. Das ist sie aber nicht, sondern sie ist in der Entwickelung begriffen.
Es giebt in der Welt verstreut einzelne wenige Künstler, welche wahrhaft persönliche Werke schaffen und
kleine Gemeinden von Bewunderern um sich versammeln. Eine allgemeine Anteilnahme an der Kunst besteht
aber nicht.

*) Vgl. den Aufsatz des Künstlers „latorno at llocciolo ckella guesüone" in der ,,Ickea liberale, klilano, 29 Oicembre l8yz"
und die dem „OataloM cki 90 apere ckel Viktore Se^amim. Llilano 1894" beigedruckten Briefe. Aus den ausführlichen Darlegungen
ist im nachfolgenden Text nur die Quintessenz gegeben.

Rückkehr in den Vchasstall. von Giovanni Segantini
 
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