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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 12.1932

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Heft 12 (Dezember 1932)
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Sprechsaal / Buchbesprechungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.28170#0234

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der assyrischen Reliefs, an die Löwenplastiken der
Romanik, an Dürers, Rembrandts Löwen, oder an
die Löwen von Delacroix. Jeder Künstler sagt anders
über den Löwen aus, und jeder gibt den ganzen Lö-
wen. Es hat ja kein Ding eine feste Form, die man nur
abzumalen braucht, das macht ja der Künstler einer
jeden Zeit, daß er das „Geheimnis" der Dinge sicht-
bar macht und so den Mitmenschen, die weniger sehen
und erleben als er, neue Einsichten in die Welt schenkt.
Und da ist kein Ding zu gering.
Bleiben noch die Modemaler, die Mit- und Nach-
läufer, die bald in diesem und bald in jenem „Stil"
malen, die Vielzuvielen: über den Wert ihrer Malerei
braucht nicht in Aufsätzen verhandelt zu werden. Für
sie und ihre Werke kann das Wort von Görres gelten:
„Hat die Natur zu Knechten sie geboren, — sind sie
ihr entlaufen und haben sich für Hochwohlgeboren
ausgegeben, kommt die Zeit und stellt alles wieder
an seinen Ort; hat die Zeit sehr wohl daran getan!"
Alfred Zacharias, München
Führen — Wachsenlassen
G. Stiehler, Leipzig.
Es ist ein eigenartiges Zusammentreffen, daß leben-
dige und schöpferische Geister, die in der Erziehung
dem Wachsenlassen das Wort reden, in gleichem Atem-
zuge aber Theorien den Vorzug geben, die eine sicht-
bare, bewußte Führung oft zur Folge haben.
Die Theorie kann klar durchdacht, in dem Aufbau
lückenlos sein als eine ideale Wachstumsreihe, sie
braucht aber dem Einzelwachstum nicht zu entspre-
chen; kann auf Unbewußtes im Schaffensakt, auf Er-
borgtes, Nachschaffendes auf seelische Haltung im
besonderen Fall keine Rücksicht nehmen. Ihr
genügt die Form, wie sie sich unpersönlich
dem Beobachter gibt. Stellt fest, beurteilt und zeigt
auf ein möglichst sachliches Bild von den vorliegen-
den Beständen. Das Irrationale schweigt, das See-
lische, so meint man, ist „ohnehin dabei"l —
Jede empfindsame Mutter, jeder beobachtende
Vater wird bei seinen Kindern stärkste Unterschiede
individueller Art Im gesamten Ausdrucksleben fest-
stellen. Alle zeigen Seele — Geist — Leibeinheit; die
lebensvollen Äußerungen aber in Geste, Sprache,
Zeichen weisen zwar allgemein die Richtung
des Wachsens auf, beileibe aber keine Über-
einstimmung im Wachstumsergebnis der
einzelnen Persönlichkeit, vor allem keine geschlossene
Formreihe, die einer ideal aufgezeigten, schematischen
Stufenfolge entspricht. Eine solche Reihe ist
gedacht; aber der Einzelne lebt sie nicht.
Sie vermittelt wertvolle, denkende Betrachtung über
das lebendige Schaffen als Idealfall, wie es sein
könnte, aber trifft nicht den lebensvollen Einzelfall.
Wer nach dem Leitbild führen will, darf im Über-
schwung des Sein-Sollens den Strom lebendigen Wer-
dens beim Einzelmenschen nicht in das vorgezeich-
nete Bett leiten wollen. Das bedeutet ein aussichts-
loses Ringen und läuft hinaus, eine Methode aus
einer Theorie zu machen: Zwang aus einer
E r k e n n t n i s I
Ein aussichtsloses, ein Gefahr bringendes Ringen
des Erziehers, das gegen das theorielose, lebendige
Kind steht; das wachsen will nach eigengerichteten
Formen. —
Ein Beispiel! Es beweist nicht, aber beleuchtet die
Lage. Drei artgleiche Obstkerne keimen, wachsen.
Drei Obstbäumchen, verschieden nach Form, Größe,
Blüte und Frucht stehen im Garten. —
Der Gärtner sorgt für gerades Wachsen, bindet
Pfahl und Stamm, hält Schäden fern, veredelt die
Sorte. —
Pflegliches Behandeln und Wachsen nach innerem
Gesetz treffen zusammen.
Dieser Gärtner zwingt nicht wie etwa der Kollege

im Nachbargarten die Bäumchen an ein Spalier, da-
mit sie Zweig um Zweig, von Latte zu Latte sich in
beabsichtigter Form entwickeln. Auch ein Wachsen
drüben, aber mit vorbedachter Formung; dei
Eigenwuchs wird ersetzt durch Wuchs unter Zwang.
Vielleicht bringen die am Spalier gezogenen Bäum-
chen einen gleichmäßigen, rasch prüfbaren, beste-
chenden Erfolg durch strenge Ordnung, Gewöhnung,
Anpassung. — Vielleicht!
Aber die drei nicht streng geführten Bäumchen
geben eigengesetzliches Wachsen, persönliche Form,
jenseits von harter Bindung. Die Natur hat ihr Recht
bekommen. Dem werdenden Menschen muß bei sei-
nem Wachstum in Geste, Sprache, Zeichen auch sein
Naturrecht gewahrt bleiben.
Damit soll nicht dem sorglosen Geschehenlassen
das Wort geredet werden, denn das würde Sinnlosig-
keit aller Erziehung bedeuten. —
Aber ein klargeordneter, scharfdurchdachter Stufen-
gang kann in erster Linie nur allgemein die sichtbaren
Formprobleme des künstlerischen Gestaltens dartun,
nicht den vielverzweigten Schöpfungsakt
selbst aufzeigen. Das Psychologische, das Seelische
steht nicht im Vordergrund der Betrachtung. Das kann
der Erzieher für den Einzelfall dann ahnen, wenn er
beim Gestalten selbst die Freude und Unruhe, die
innere Erregtheit wahrnimmt. Damit soll nicht geleug-
net werden, daß die Theorie den Erziehern neuartige
Wegweisung bringen kann, die das kindliche Be-
mühen um die Gestalt günstig beeinflussen in de,r
Richtung, die der Verfasser selbst entwickelt.
Aber alles Unbewußte im Schöpfungsakt entgeiit
der Analyse, denn die Intuition, die Triebkraft
entzieht sich der sicheren Forschung und Formulierung.
Das ist die Tragik der Jünger um Britsch, daß ein
Teil bereits eine Methode aus der Theorie
gezimmert hat, dergestalt, daß im geschlossenen
Klassenverband alle nach einer gleichen Stufe der
Theorie die Form gestalten sollen. Auf der Berliner
Tagung ging der eine Vertreter soweit, zu erklären,
die Reinhaltung der jeweiligen Stufe zwingt den
Lehrer, die einen hinaufzuheben, die anderen zurück-
zuholen. Die beigegebene Ausstellung des Betreffen-
den ließ spüren die uniforme Handhabung.
Mit Recht wird man dem entgegenhalten, das liegt
nicht im Wesen der Theorie, sondern im Mangel an
pädagogischem Takt; es darf im Einzeifall nicht die
„Stufe", sondern der erreichte Wachstumstand aus-
schlaggebend sein.
Das zu betonen, ist heute Pflicht aller, sowohl der
Vertreter der Britsch-Theorie, als auch der Erzieher,
die meinen, daß das Kind im freien, „zwecklosen"
Schaffen seinem Tri ebg rund folgt und die Form
unbewußt, ohne denkende Art, schafft. Sind Takt
und Liebe zum Kind beim Erzieher gepaart, dann
sind die Vertreter der Britsch-Theorie und die Er-
zieher, die die Britsch-Theorie nicht kennen, am rech-
ten Platz. Sie lassen wachsen; beobachten, stellen
nachträglich die Formbestände fest, regen an;
helfen durch Geste, aufmunterndes Wort, auch nach
der Grundlage des Stofflichen und technischen hin,
soweit es den seelischen, den geistigen, den körper-
lich könnenden (technischen) Kräften entspricht. S i e
binden aber nicht vor dem Schaffen im
E i n z e I f a 11, sie passen sich der Gesamtlage an
und brauchen dann nicht zu resignieren, wie es ein
Pestalozzi wehmütig bei seiner starren Methode des
Zeichnens empfunden hatte: „Ich wollte führen, wo
nichts zu führen ist." Nichts zu führen ist beim freien
Einzel - und Bildgestalten! —
Beim sachlichen Schaffen, dem zweck-
gerichteten technischen Schaffen aber
kann geführt werden, in manchen Fällen muß
geführt werden. Im Technischen kann die Idee
ebenso voranstehen wie beim freien Gestalten, aber

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