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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 12.1932

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Heft 12 (Dezember 1932)
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Sprechsaal / Buchbesprechungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.28170#0235

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die „Theorie des Handelns", des vorbedachten Weges
mit zweckentsprechenden Mitteln, bestimmt dieses
Schaffen. Hier kann man nicht nur von einer Anpas-
sung an den Schaffenden beim Hinführen zu „etwas"
reden, sondern von einem Anpassen an die Natur des
zu Schaffenden. Ein Reiseheft soll gebunden werden!
Form — Farbe — Papier — Umschlag können noch
Wahlhandlungen offen lassen, aber die Materialien
selbst bestimmen mit den Arbeitsvorgang des Hef-
tens, Bindens, Uberziehens und dergleichen mehr.
Der innere Mensch hat dabei seine Absicht, seinen
Wunsch, seine Vorliebe, aber der Zweck heiligt die
Mittel zur Erreichung des „technisch" gebundenen
Werkes, des Reiseheftes. Alle Betätigungen ordnen
sich unter im Dienste des Erstrebten. Bei erstmali-
gem Beginnen muß der Erzieher den werdenden Men-
schen führen bis zum Vormachen und Nachmachen,
damit ein Reiseheft Wirklichkeit werdel
Wir sind uns also einig; wir lassen wachsen
beim eigentriebigen freien Gestalten
und befragen darnach die Theorie.
Es kann das Geschaffene der Theorie entsprechen,
aber es wird auch im Einzelfall der Theorie nicht ent-
sprechen.
Die Theorie bedeutet nicht die Führung, die Me-
thode zum Schaffen, sondern die Feststellung, Ord-
nung der Gedanken, der Formbestände nach dem
Schaffenl —
Wir führen beim sachlich, technisch
zweckgerichteten Schaffen; beachten das
zwangsläufig Technische beim Ablauf des Arbeits-
weges. Helfen jeweils dem Kinde, aber verlangen
nicht technische Griffigkeit und Anwendung von Ar-
beitsvorgängen, die die geistigen und körperlichen
Kräfte übersteigen.
Im freien Gestalten also keine technische
Bindung oder Bevorzugung auf bestimmte Stoffe (das
Reh, der Hahn, der Baum, der Strauch), auf zarten Blei
und lasierende Farbe; auf'ein Durchgestalten bis zur
letzten Blattspitze und in den letzten Bildzwickel
hinein, auf Gemeintes und Nichtgemeintes. Das Kind
„meint" alles. —
Nein; rumoren kann es in Form und Farbe; schwin-
gen kann es, zart in liebevoller Andeutung, ohne bild-
liche Vollendung. So, wie durch den Griffel fließt das
Blut, ist es gut — beim Kindl
So führe ich nicht mit einer Theorie;
ich lasse wachsen und rege an beim
freien Gestaltenl
Zu Händels „Kunst und Kitsch" Heft 9.
Händel stellt fest, daß der der größte Künstler sei,
der den erlernten Zeitstil überwindet und einen
neuen schafft und vorbereitet und der Mensch-
heit eine neue Sehweise schenkt.
Danach bleibt unser Herrgott, der Meister aller
Meister ein Stümper, weil es ihm gar nicht in den
Sinn kommt, der „Menschheit alle Augenblicke eine
neue Sehweise zu schenken". Sein Flieder duftet all-
jährlich wie in unserer Kinderzeit, seine Schwalben
zwitschern wie damals. Ta, es wäre furchtbar, wenn
es anders wäre. Gerade das greift an unser Tiefinner-
stes, daß wir in alter Seh- und Hörweise den Lenz
genießen. Tugendland, Kindheitstage werden wieder
lebendig. Das Elternhaus taucht wieder vor uns auf.
Hätte Händel recht mit seiner Behauptung, so muß
die Folge eine Entfremdung sein zwischen Alt und
Tung. Leider hat Händels Kunsterziehung auch be-
reits diese Früchte gezeitigt. Das vorige Geschlecht
sah in den gereiften Menschen in größerem Maße
Autoritäten als das moderne. Vom 19. Tahre an braucht
der heutige Mensch die „Alten" mit ihrer überlebten
Sehweise nicht mehr. Die Kunsterzieher sehen ja
darin den Fortschritt. Solche Thesen schaden nicht
nur der Kunst, sondern auch dem Familien- und im

weiteren Sinne dem Staatsleben. Im Grunde genom-
men ist die sogenannte Sehweise der Tungen gar
keine neue. Es gibt ja gar keine wirkliche Entwicke-
lung in der Kunst. Oder will man behaupten, daß wir
seit den Babyloniern, Ägyptern und Griechen um ein
Haar weiter gekommen sind? Gott sei Dank nein, nur
im Tempo sind wir leider weiter gekommen. So
schnell erschien keine neue Sehweise, kein „Ismus"
wie heut, wo ja jeder junge Anfänger (siehe Händels
Behauptung) nur danach zu streben hat, der Mensch-
heit möglichst fix wieder eine neue Sehweise zu
schenken; denn anders kann er, nach Händels Fest-
stellung, und sicher nach der Ansicht vieler Kollegen,
nie ein wirklich großer Künstler werden. Ist diese
Kunftauffassung nicht furchtbar und dringendst reform-
bedürftig? Eine Versündigung bedeutet jede Kunst-
unterrichtsstunde, die auf dieser Grundlage erteilt
wird. Zeitgeist-Tempo, Tempo, anstatt auf seelischem
Gebiet nur besinnliches, tiefes Genießen
der Gegenwart. Händels Richtung aber bringt nur
die Zukunft hoch, allerdings mit der jedesmaligen Ein-
schränkung, daß auch diese zukünftige Kunst schnell-
stens wieder einer neuen Sehweise Platz zu machen hat.
Achtung vor der großen Vergangenheit, aus dem
Alltag Schönes und Gutes suchen, dem Zeitgeist
„Tempo, Tempo" in die Zügel fallen, das tut unsrer
Schule not.
Den drei Händelschen Qualitätsstufen können wir
nicht beipflichten. Wir stellen nicht die neue Wege
suchende Kunst obenan, die „Ungewohntes" bringt.
Sie gehört in die Experimentierabteilung. Uns ist die
Kunst die höchste, die seelische Erlebnisse zu gestal-
ten weiß, so, daß wir im Kunstwerk dieses Erlebnis
wieder finden. Alles andre ist Menschliches — Allzu-
menschliches. Es kommt gar nicht darauf an, ob far-
big (im Sinne von leuchtend, feuerwerkend) oder in
gebrochenen Tönen, ob breit und pastös oder mit
spitzem Pinsel und fein durchgearbeitet, es kommt
nicht darauf an, wie weit man der Natur nahe gekom-
men ist. Teder Beschauer hat andere Register in sei-
ner Seele, Die Tugend dahin führen, daß jeder ehrlich
seine Kunst sucht, das ist Aufgabe des Kunstunler-
richts. Besonders Kinder werden durch naturalistische
Kunstwerke schneller und offener sich einstellen als
durch naturferne, abstrakte Kunstwerke, die erst ein-
gehender Kommentare bedürfen. Es gehört nicht in
die Schule, sich den Kopf zu zerbrechen über das
„Wie". Das bleibe Geheimnis der Werkstelle. Diago-
nale, Blickpunkt usw. bleibe Angelegenheit der Aka-
demie. Gläubigkeit und ein kunsthungriges Herz schaf-
fen, das ist wichtiger als Diagonale und Blickpunkt.
Unsere Kunstbetrachtung ist zu wissenschaftlich ge-
worden. (Siehe Quintaneraufsätze in Schauen und
Schaffen.) Heuchelei, Phrasentum, Erheblichkeit wird
so großgezogen.
Händel behauptet, Raffael sei ohne Perugino, v. Dyk
nicht ohne Rubens, Liebermann nicht ohne Manet, Hofer
nicht ohne Cezanne zu denken. Er reiht sie in die nie-
drigere Gruppe 2 ein, und sagt geringschätzig: „Sie
decken den Bedarf der oberen 1000 an Kunst." (!)
Dazu sei bemerkt, daß es, Gott sei Dank, auch
heut noch Eigensinnige genug gibt, die den der Zeit
Vorausgeeilten nicht folgen mögen. Für uns steht
ein Raffael nicht tiefer, weil er bei Parugino das
Handwerk erlernte, hernach den Lehrmeister über-
traf, aber später keine neue Sehweise der Mensch-
heit schenkte, sondern „nur" die tiefsten, reinsten,
erhabensten Kunstwerke. Diese Künstler stehen uns
am höchsten; und es Ist auch der Zeitgeist, wenn
junge Anfänger Altäre zu stürzen suchen. Wohin steuern
wir aber, wenn wir dulden, daß in den Schulen diese
Meister als Meister zweiter Ordnung der deutschen
Tugend nahe gebracht werden und womöglich Kan-
dinsky und Kokoschka in die der ersten Ordnung- ge-
stellt werden. Ist's nicht bereits eine Folge dieser

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