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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 11,2.1898

DOI Heft:
Heft 22 (2. Augustheft 1898)
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Die Toten und die Lebenden
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https://doi.org/10.11588/diglit.7956#0303

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Die Toten und die Lebenden.

An Deutschland ist es lange Zeit eine vielgehörte und sicherlich auch
nicht unberechtigte Klage gewesen, daß die Toten die Lebenden totschlügen,
und noch heute wird sie üfter wiederholt. Daß unsere klassische Dichtung
weite Kreise des Volkes, vor allem der Gebildeten, von der Beschäftigung
mit der modernen abgehalten hat, daß man diese in Bausch und Bogen
als Epigonenliteratur abthun zu können glaubte, ist eine allgemein be-
kannte Thatsache; über die mangelnde Pflege der modernen Musik hat
an dieser Stelle neulich Hans Sommer mit beweglichen Worten ge-
sprochcn, was aber Malerei und Bildhauerkunst anlangt, so dürfte wohl
auch kein Zweifel sein, daß die Reproduktion älterer Werke — auf die
Neproduktion kommt es an, da Originale ja nicht in breitere Kreise
dringen können — die der modernen überwiegt. Die Reaktion auf die
einseitige Bevorzugung dcs Alten ist nun freilich lange da, und sie ist,
wie das immcr so geht, auch schon hübsch ins Extrem geraten: war
früher zu befürchten, daß die Toten die Lebenden totschlügen, so möchte
man nun die Toten, d. h. die ältcren Dichter und Künstler ganz tot
machen, einerlei, ob sie noch Lebenskraft und Vedeutung für ihr Volk
haben oder nicht. Die Bestrebungen dieser Art sind auch nicht ohne
Erfolg geblieben, konnte doch bcispielsweise Leonhard Lier hier im Kunst-
wart jüngst die völlige Abwendung ganzer Leserklassen nicht bloß von
Schiller — das ließe sich begreifen —, sondern selbst von Goethe sest-
stellen. Es wird daher Zeit, das Recht der Lebenden und das Recht
der Toten einmal gegeneinander abzuwägen, oder mit anderen Worten,
die Bedeutung der älteren und die der zeitgenüssischen Kunst für die
Lebenden auf Grundsätze zu bringen. Dabei sehen wir natürlich von
der wirklich toten Knnst ab, vergessen aber nicht, daß wahrhaft echte
Kunst nicht sterben, sondern, wenn nicht jederzeit, so doch zu Zeiten wie-
der auferstehen kann und muß.

Entscheidend sind bei der Lösung ästhetischer Fragen wie der vor-
liegenden ganz einfach die Bedürfnisse des Publikums oder besser, des

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