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Münchner kunsttechnische Blätter — 5.1908/​1909

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Nr. 10
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Schüz, Martin: [Rezension von: Manchot, Wilhelm, "Leonardos Abendmahl"]
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Maler mit farbenschwachen Augen
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https://doi.org/10.11588/diglit.36593#0044

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40

Münchner kunsttechnische Blätter.

Nr. !0.

das ist die von Leonardo beabsichtigte Wirkung. Die
grossen Verhäitnisse täuschen den Beschauer über
seinen Standpunkt hinweg, er glaubt in dem Raume
des Bildes zu sein. Wie könnte, ihm da der Gedanke
kommen, dass er eigentlich gar nicht auf den Tisch,
sondern darunter blicken müsste, und nicht nur der
Tisch, sondern alles, Personen und Dinge wären von
unten in der entsprechenden Verkürzung zu sehen.
Aber an dergleichen darf man vor einem grossen
Kunstwerk überhaupt nicht denken. Wir sind ja froh,
dass wir diese Untenansichten und alle damit zusammen-
hängenden barocken Ideen, die rein technischen
Grübeleien und Experimenten entsprungen sind,
glücklich überwunden haben. Ein Wandgemälde kann
nun einmal nicht wie ein Panorama in Augenhöhe an-
gebracht werden, sondern über den Beschauern, um
von allen gesehen werden zu können. Wir müssen
uns also eine bewusste Täuschung bezüglich des Augen-
punktes gefallen lassen.
Wollte man aber wirklich bei Betrachtung des
Bildes den idealen Standpunkt einnehmen, so dürfte
konsequenterweise immer nur ein Zuschauer in das
Cenaculum eingelassen werden und dieser müsste, wenn
alles stimmen sollte, in der mittleren Längsachse des
Raumes so hoch erhoben werden, dass seine Augen
mit den Augen Christi in einer Horizontalebene lägen.
Aber selbst wenn man diesen erhöhten Standpunkt
einnähme, wäre die Ansicht gerade von perspektivischen
Gesichtspunkten aus erst recht falsch, und zwar an der
peinlichsten Stelle, denn nun stimmten die schrägen
Balkenlinien der Kassettendecke des Bildes nicht mehr
zu den wirklichen Linien der Decke des Cenaculums,
mit denen sie eben nur dann harmonieren, wenn der
Beschauer unten steht. Gerade darin zeigt sich die
feine perspektivische Berechnung Leonardos.
Darum halte ich es auch für ganz belanglos, wenn
man herauszufinden glaubt, dass der Boden früher
höher gewesen sei — der Beweis dafür dürfte übrigens
mit einigen Verputzspuren über den Türstürzen nicht
erbracht sein.
Wenn früher der Raum einmal als Pferdestall diente,
so dürfte sein Boden, nachdem er eine Holzverkleidung
erhalten, jetzt eher höher sein als früher. Auch kann
aus dem Vorhandensein eines Podiums im Refektorium
der Certosa di Pavia keine Folgerung für ein solches
in dem von S. Maria delle Grazie gezogen werden.
Und wenn wirklich ein solches vorhanden gewesen
wäre, so handelte es sich doch wiederum nur um eine
Erhöhung von kaum einem halben Fuss.
Nun aber zu dem Rollpodium von einigen Stufen (es
müsste über 2 m hoch sein!), das es uns ermöglichen soll,
„unbeeinträchtigt durch die zurzeit vorhandene Disso-
nanz*)" Leonardos „Abendmahl" zu gemessen. Sollte
das wirklich den Genuss erhöhen, der Illusion helfen?
Wäre es nicht viel mehr zu wünschen, dass alle
derartigen störenden Apparate aus dem ehrwürdigen
Saal verschwänden, der schon durch das jüngst vor
dem Bilde aufgeschlagene Absperrungsgerüst mit den
Glasscheiben wahrlich genug verunziert ward? Wäre
es nicht würdiger, wenn der Raum wieder seiner
ursprünglichen Bestimmung entsprechend das Aussehen
eines Refektoriums gewänne?« Martin Schüz.
Maler mit iarbenschwachen Augen.
Die neuartige und ungewohnte Form des Farben-
sehens, die bei genialen Malern bisweilen zunächst so
viel Aufsehen und Verwunderung erregt, hat nicht selten
zu der Anschauung geführt, dass die Augen des Künstlers
gewisse Anomalien aufweisen könnten, vermöge deren
er anders sehe als der gewöhnliche Sterbliche. Von

*) Zwischen dem Augpunkt des Bildes und dem
des Beschauers.

Laien und Gelehrten ist besonders viel über die so-
genannte Farbenblindheit von Malern gesprochen
worden. Dr. Alfred Guttman weist nun in einem
Aufsatz der „Umschau" nach, dass die eigentliche Farben-
blindheit, wie sie sich bei 3—4% aller Männer findet,
die Möglichkeit einer malerischen Wiedergabe der
Welt direkt ausschiiesse. Beim Farbenblinden ist
nämlich der Farbensinn derartig reduziert, dass er bei
den Hauptfarben des Sonnenspektrums vom Rot bis
zum Grün nur eine „warme", d. h. rötlich-gelbliche
Strecke von verschiedener Helligkeit und vom Blau
bis zum Violett nur eine kaltbläuliche Färbung unter-
scheidet. Aus den Malversuchen Farbenblinder geht nun
deutlich hervor, dass solche Personen auf Schritt und
Tritt die gröbsten Farbenverwechslungen begehen.
Ein Maler mit einer derartigen Anomalie des Farbensinns
würde daher nur dem Gelächter der Welt preisgegeben
sein. Guttmann hat bei den Untersuchungen, denen er
die Augen zahlreicher Maler unterwarf, nicht einen
einzigen Fall von Farbenblindheit, sondern stets einen
völlig normalen, meist sehr verfeinerten Farbensinn
gefunden. Dagegen gibt es eine andere typische Ver-
änderung der Farbenempfindung, die sogenannte
Farbenschwäche, die wohl immer eigentlich gemeint
war, wenn man bei einem Maler Farbenblindheit kon-
statieren wollte. Diese Farbenschwäche, die sich auch
bei 3—4°/o aHer Männer findet, besteht darin, dass das
Auge eine etwas geringere Unterscheidungsfähigkeit
für die einander ähnlichen Farbtöne besitzt. Das
farbenschwache Auge wird z. B. in dem Uebergang
von Gelb zu Orange und noch mehr von Gelb zu Grün
weniger Unterscheidungen machen als das normale, ja
sogar gelegentlich matte orangegelbe Töne mit Gelb-
grün verwechseln. Bei Farbenschwäche wird auch die
Farbe in grösserer Entfernung, bei geringer Intensität
oder kurzer Betrachtung sehr viel schlechter erkannt
als bei normalem Farbensinn. So kann unter gewissen
Bedingungen die Farbenunterscheidung so stark herab-
gesetzt werden, dass das farbenschwache Auge ähnlich
grobe Verwechslungen begeht wie das farbenblinde.
Die Farbenschwäche gibt aber anderseits dem Auge
einen Vorteil, der besonders für den Maler wichtig ist:
das Empfinden für Farbenkontraste wird über die Norm
gesteigert. Sieht also ein farbenschwaches Auge eine
grüne Farbe, die es an sich nicht richtig erkennen,
sondern für Grau oder Dunkelgelb halten würde, neben
einer roten oder rötlichen Farbe, so erkennt es das
Grün mit grosser Sicherheit. So entwickelt sich bei
Farbenschwäche eine Antipathie gegen krasse Farben-
zusammenstellungen und ein sehr feines Gefühl für
Farbenharmonie. Guttmann kennt drei Maler mit farben-
schwachen Augen. Alle drei sind als ausgezeichnete
Koloristen anerkannt, einer von ihnen besitzt als Träger
eines grösseren Preises einen beim Publikum wohl-
bekannten Namen. Bilder von ihm hängen in ötfent-
lichen Galerien — noch nie ist der Kritik oder den
Kollegen eine minderwertige Farbengebung bei ihm
aufgefallen. Aus der Rubrik der zum Malerberuf
Tauglichen sind also nur die 4°/„ der farbenblinden
Männer auszuscheiden. Für den Kritiker und den
Kunstbetrachter freilich wird jede Art von Farbensinn-
störungen hinderlich und hemmend erscheinen. Der
Farbenblinde ist zum Kritiker gänzlich ungeeignet; ihm
kann es passieren, dass er ein in warmen Farben ge-
haltenes Aquarell für eine einfarbige Zeichnung oder
eine Radierung hält. Aber auch dem „Farbenschwachen"
werden feinere Nuancen des malerischen Eindrucks
häufig entgehen. Besonders auffallend ist es, dass
Farbenblindheit und Farbenschwäche bei Frauen fast
nie Vorkommen. Ueberhaupt ist im allgemeinen der
Farbensinn der Frauen erheblich feiner als der der
 
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