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Münchner kunsttechnische Blätter — 5.1908/​1909

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Nr. 13
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Erwiderung in Angelegenheit von Leonardos "Abendmahl"
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Nr. 13.

Münchner kunsttechnische Blätter.

i

Erwiderung in Angelegenheit von
Leonardos „Abendmahl".
Herr Prof. W. Manchot-Frankfurt a. M. sandte
uns folgende Entgegnung auf den Artikel des
Herrn Martin Schüz über Leonardos „Abendmahl"
in Nr. IO dieser Blätter (8. Februar 1909):
In Nr. io der „Kunsttechnischen Blätter" bringt
Herr Martin Schüz eine Entgegnung auf meinen, der
.Frankfurter Zeitung" entnommenen und in Nr. 6 dieser
Zeitschrift abgedruckten Artikel über Leonardos „Abend-
mahl". Diese Entgegnung enthält einige Unrichtigkeiten,
so dass dieselbe nicht unwidersprochen bleiben kann.
Zunächst verkenne ich keineswegs den Unterschied
zwischen Staffeleibildern und Wandgemälden in grossen
Verhältnissen, aber ich bin gerade der umgekehrten
Meinung des Herrn Schüz hinsichtlich der Betrachtungs-
weise beider. Ein Staffeleibild bildet einen Gegenstand
für sich, ist in der Regel von kleinen Dimensionen im
Verhältnis zu dem es umgebenden Raum, bedeckt nur
einen Teil einer Wand, es kann und will damit niemals
die Illusion erweckt werden, als ob man selbst zu dem
Raum gehöre, der dargestellt wird. Man betrachtet
andere, die in jenem Raume sind und verzichtet des-
halb auch sehr leicht auf das Bedürfnis, sich auf die
nahezu gleiche Horizonthöhe, wie ihn das kleine Bild
aufweist, zu versetzen. Wem würde es z. B. einfallen,
wenn er ein aus der Vogelperspektive konstruiertes
Bild betrachtet, sich auf die gleiche Horizonthöhe des
Bildes versetzen zu wollen ?
Aber wie ganz anders liegen die Dinge bei
Leonardos „Abendmahl" ! Dasselbe nimmt die ganze
Breite der Wand, auf der es gemalt ist, ein. Die Wand
fehlt also für das Auge soweit das Bild reicht, und
statt dessen sieht man gleichsam eine Verlängerung
des Raumes, in dem man sich befindet, sieht in die
Tiefe des scheinbar verlängerten Raumes hinein, und
deshalb verlangt das Auge, sofern es für perspektivisches
Sehen empfänglich und geschult ist, die Ueberein-
stimmung eines Standpunktes mit dem, der dem Bilde
zu Grunde lag, damit die Illusion, auf die, wie
Herr Schüz ganz richtig sagt, alles ankommt, eine
möglichst vollständige werde.
Wenn Herr Schüz dagegen sagt: „Wer sich dem
„Eindruck des Bildes hingibt, ist sofort in der Illusion,
„auf die alles ankommt, und ist damit über alle die
„vorgebrachten Bedenken hinausgehoben. Er bemerkt
„sie gar nicht, und das ist kein Mangel seines Sehens,
„vielmehr so soll es sein, das ist die von Leonardo
„beabsichtigte Wirkung usw.", so liegt doch die Frage
nahe, woher denn diese Offenbarung dessen, was
Leonardo angeblich bewirken wollte, stammt? Dies,
wie die sich anschliessenden Sätze sind doch nicht zu
beweisen, ebensowenig wie der darauffolgende vierte
Absatz. Denn hier sagt Herr Schüz: „Wenn ein Be-
schauer einen so hohen Standpunkt einnehmen würde,
„dass seine Augen mit den Augen Christi (der Horizont-
„höhe des Bildes) in einer Horizontalebene lägen, dann
„wäre die Ansicht von perspektivischen Gesichtspunkten
„aus erst recht falsch, und zwar an der peinlichsten
„Stelle, denn nun stimmten die schrägen Balkenlinien
„der Kassettendecke des Bildes nicht mehr zu den
„wirklichen Linien der Decke des Cenaculums, mit
„denen sie eben nur dann harmonieren, wenn der Be-
„schauer unten steht. Gerade darin zeigt sich die
„feine perspektivische Berechnung Leonardos!!!"
Ich musste diesen Satz wiederholt und wiederholt
lesen, so unfasslich war mir diese Annahme, die nur
das eine beweist, nämlich, dass deren Urheber über
die Grundbegriffe perspektivischer Konstruktion nicht
völlig im Klaren zu sein scheint.

Die Sache verhält sich nämlich gerade umgekehrt!
Wenn man sich vor einem Bilde, wie das in Rede stehende,
befindet, bei welchem der auf dem Bilde dargestellte
Raum die Verlängerung des Raumes, in dem man sich
befindet, darstellt und den idealen Standpunkt einnimmt,
dass die Augen sich in gleicher Höhe mit dem Augen-
punkte des Bildes und in gleicher Entfernung von dem
Bilde wie die dem Bilde zugrunde liegende Distanz
befinden, dann werden alle senkrecht zur Bildebene
verlaufenden Linien nach dem Augenpunkte des Bildes
gerichtet sein. Und zwar nicht nur die im Bilde
perspektivisch konstruierten, sondern auch alle Wand-
und Deckenlinien des Raumes, in dem man sich be-
findet. Also nur dann stimmen die schrägen Linien
der Kassettendecke des Bildes mit den wirklichen
Decken- und Wandlinien des Cenaculums überein,
nur dann ist die völlige perspektivische Harmonie
zwischen Raum und Bild geschaffen!
In dem Augenblick, in welchem die Ueberein-
stimmung des Horizontes des Beschauers mit dem
Horizont des Bildes nicht mehr stattfindet, ist die
Kontinuität der perspektivischen Linien von Raum und
Bild nicht mehr vorhanden und die dadurch entstehende
Dissonanz wird naturgemäss um so grösser, je grösser
die Entfernung beider Horizonte witd. — Bei ver-
hältnismässig geringem Höhenunterschiede der Horizonte
wird diese Divergenz der perspektivischen Linien von
Raum und Bild kaum stören. Das Auge überwindet
leicht solche Abweichungen infolge seines wunder-
baren Anpassungsvermögens, denn beim Sehen gilt auch
das allgemeine Naturgesetz des Vorrechtes des Grösseren
und Stärkeren, sei es in Gestalt oder Kontrast.*) Wäre
dies nicht der Fall, dann müsste ja für jeden Menschen
eine, seiner Körpergrösse entsprechende veränderte
Höhenlage geschaffen werden, um dessen Augen auf
die gleiche Horizonthöhe zu bringen. — Wird aber der
Unterschied von wirklichem und Bildhorizont so be-
deutend, wie im vorliegenden Falle, dann ist das Auge
nicht mehr imstande, diese Differenz zu überwinden.
Die Kontinuität der perspektivischen Linienführung
von Raum und Bild ist unterbrochen, es bildet sich
an deren Berührungsfläche (der Bildfläche) ein starker
Knick, der für ein im perspektivischen Sehen geschultes
Auge überaus störend wirkt.
Weil nun mit Sicherheit vorausgesetzt werden
muss, dass Leonardos Auge durch diese Dissonanz
empfindlich gestört worden wäre, ist es keineswegs
belanglos zu finden, dass der Fussboden des Cenaculums
ursprünglich wesentlich höher lag. Herr Schüz meint,
„der Beweis dafür dürfte übrigens mit einigen Ver-
putzspuren über den Türstürzen nicht erbracht sein".
Aber ich habe in meinem in Rede stehenden Artikel
keineswegs nur von Verputzspuren gesprochen, sondern
ich sagte: „so wird man über den Türstürzen, in ihrer
„Breite, neueres Mauerwerk und neueren Verputz
„gewahr. Es scheint demnach, dass die Türen ur-
sprünglich höher sassen, bezw. der Fussboden des
„Raumes höher lag. Es geht dies auch daraus hervor,
„dass die Mönche s. Zt., um einen bequemeren Verkehr
„mit der Küche zu haben, unter der Gestalt Christi
„eine Türe durchbrechen Hessen, deren obere Kante
„bis in das Tischtuch hinein ragte. Bei der jetzigen
„Höhe des Fussbodens hätte eine solche Türe noch
„nicht einmal die Höhe der hölzernen Wandbekleidung
„überschritten."
Das sind doch wahrlich kräftigere Beweise, als es
nur Verputzspuren wären, aber sie passten Herrn
Schüz augenscheinlich nicht in seine Deduktionen und
deshalb überging er sie und suchte bei dem Leser
seiner Ausführungen den Glauben zu erwecken, als ob

*) Vergl. hierüber: „Das Stereoskop" von W.
Manchot, Leipzig, Veit & Co. 1903. Seite 43, 46, 6off.
 
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