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Münchner kunsttechnische Blätter — 5.1908/​1909

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Nr. 11
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Berger, Ernst: Ein Brief Segantinis, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.36593#0045

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München, 22.Febr.1909.

Beüage zur „Werkstatt der Kunst" (E. A. Seemann, Leipzig).
Erscheint )4tägig unter Leitung von Maier Ernst Berger.

Y. Jahrg. Nr. 11.

Inhalt: Ein Brief Segantinis. Von E. B. (Schtuss.) — Die Künstlersteinzeichnung. Von Joh. Mai-Tiisit.
(Schiuss.) — Der Kampf gegen die gewerbliche Verwendung von Bleiweiss. Von ing. chem. Juiius
Grünwald-Lafeschotte. — Verschwindende Farben.

Ein Brief Segantinis.*) (Schluss.)

Der Schlusssatz des Briefes (tutto dipende
daiia faccoltà dei pittore nei vedere neiia natura
più o meno ricchezza sinfonica di materie di luci
coloranti) ist äusserst schwer wörtlich zu über-
setzen. Man wird sich aber sofort darüber kiar
sein, was Segantini damit sagen will, wenn man
sich erinnert, dass die moderne Optik entgegen
den früheren Anschauungen die Farben ais etwas
den Dingen nicht Wesentliches erkannt hat und
wir nicht die Farben (Pigmente), sondern nur
deren reflektierende Lichtstrahlen in unserem Auge
empfinden. Ausserdem hat sich bei der Mischung
von farbigem Licht gegenüber der Mischung von
farbigen Stoffen (Pigmenten) in physiologischem
Sinne ein grundiegender Unterschied fessteiien
lassen, darin bestehend, dass die ersteren sich
zueinander addieren, während die zweiten sich
subtrahieren. Die Mischung farbigen Lichtes wird
demnach stets grösser, lichtstarker und also inten-
siver werden, als die Mischung von Farbkörpern.
Das drastischste Beispiel ist wohl die Mischung
von Gelb und Blau als monochromatische Farben
des Spektrums, welche miteinander vereinigt
Weiss geben, während Blau und Gelb auch bei den
intensivsten Farbstoffen nur ein lichtschwächeres
Grün geben können. Wer sich hierüber genauer
informieren will, findet in Bezolds vortrefflicher
Farbenlehre (Braunschweig 1874, S. 101) genügen-
den Aufschluss.
Da unsere Netzhaut die Eigentümlichkeit be-
sitzt, Eindrücke, die von gewisser Distanz oder
in schneller Reihenfolge auf sie einwirken, zu
mischen und nach optisch-physiologischen Ge-
setzen jedem farbigen Impuls eine Empfindung
in der komplementären Farbe folgen muss (Kon-
*) Der hier abgedruckte Aufsatz ist im Jahre 1897
geschrieben, was hiermit nachgetragen sei. E. B.

trastfarbe), so ergeben sich auch für den Maler
eine Reihe von Bedingungen beim Auftrag von
Farben, die ihn veranlassen können, mit Vorbe-
dacht auf die genannte Eigentümlichkeit der Netz-
haut Rücksicht zu nehmen.
Brücke (Physiologie der Farben, § ßl) be-
handelt dieses Thema in einem besonderen Ab-
schnitte und meint: „ein erfahrener Maler soll
ebensogut auf der Netzhaut wie auf der Palette
zu mischen verstehen;" er fügt noch hinzu: „Manche
Meister haben sogar etwas darin gesucht, mehr
auf der Netzhaut als auf der Palette zu mischen
und das Publikum durch das veränderte Aus-
sehen in Erstaunen zu setzen, welches ihre auf
den Abstand berechneten Bilder in der Nähe an-
nehmen. Man muss dies sicher missbilligen, wie
jeden Kunstgriff, durch welchen der Künstler
wesentlich nicht mehr sein Werk zu verbessern,
sondern seine Geschicklichkeit ins Licht zu setzen
sucht; aber andererseits muss man erkennen, dass
das Mischen auf der Netzhaut, durch Nebenein-
andersetzen der Farben, für manche Zwecke
wesentliche Vorteile bietet, indem man an Arbeit
erspart und an Wirkung gewinnt. Für solche
Zwecke muss seine Anwendung entschieden ge-
billigt werden, denn es handelt sich eben darum,
die besten Wirkungen zu erzielen, ob so oder
so, ist von untergeordneter Bedeutung."
Dass Segantini es in hervorragender Weise
versteht, die Farben auf der Netzhaut zu mischen,
so dass wir vor seinen Bildern den Eindruck
sachlichster Wirklichkeit empfinden, ist, wie aus
dem Obigen zu folgern ist, ein deutlicher Beweis
für den durchaus modernen Geist, mit welchem
er seine Kunst ausübt. Nicht allein das feinere
Empfinden für die Naturschönheiten, welche den
einsamen Mann auf den Engadiner Berghöhen
 
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