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Thode, Henry; Michelangelo; Michelangelo [Contr.]
Michelangelo: kritische Untersuchungen über seine Werke; als Anhang zu dem Werke Michelangelo und das Ende der Renaissance (Band 2) — Berlin: Grote, 1908

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Das Jüngste Gericht

Worte, welche die unerhört lebensvolle Wirkung der Gestalten
ähnlich verherrlichen, wie ein Ausspruch Sebastiano del Piombos,
den Pietro Aretino in seiner Komödie La Talanta (Akt II, Sz. 3)
mittheilt: „es ist schwer einzusehen, wer lebendiger sei: die Leute,
welche die gemalten Figuren bewundern, oder die Figuren, die
von den Leuten bewundert werden."
An Vasaris überschwänglichen Ausruf erinnert der Schluss
eines Sonettes von Gandolfo Porrino von Modena (Frey: Dicht.
S. 272, CLXXX):
Se del figliol di Dio l'almo sembiante,
Che Veronica impresse nel bei velo,
Tal ch'e giä stanco et ha cangiato il pelo,
Tira del Tebro ä queste rive sante,
Ho per mirar diverse cose tante
Et tutta la militia alta del cielo
Dritto e, se di la sü lo scalda il zelo,
Ch'ale doppio disio giunga ä le piante.
Quivi appar di Maria la forma vera,
E quel fia nel gran di l'eterno Sire,
Scacciando i pravi e ä se chiamando i giusti.
O sacra Roma, homai tu puoi ben dire:
Mai non mi fe di tal trionfo altera
Cesare o gli altri miei famosi Augusti.
Die Vorwürfe, die Michelangelo im XVI. Jahrhundert gemacht
wurden, bezogen sich im Wesentlichen auf Geist und Auffassung
des Werkes, nicht auf die künstlerische Gestaltung. Diese wurde
als ein wahres Wunder betrachtet. Erst aus dem Anfang des
XVII. Jahrhunderts vernehmen wir, im Nachklang derjenigen Lodo-
vico Dolces, Stimmen, die auch an ihr auszusetzen finden, und
zwar sind es, was leicht erklärlich, solche bolognesischer Künstler.
Annibale Caracci vergleicht die Deckengemälde der Sixtina und das
Jüngste Gericht und zieht die ersteren vor, da die Figuren im
Gericht zu anatomisch seien (Bellori: Vite S. 44). Francesco
Albani, der Michelangelo in der Komposition der Verdammten im
Charonsnachen von Raphael beeinflusst glaubt, tadelt die Perspek-
tive: auch die oberen Gestalten hätten von unten, also von einem
tiefen Gesichtspunkt aus gesehen werden sollen; er findet viele
Figuren überflüssig und wünscht, Michelangelo habe für die An-
ordnung der Christus umgebenden Personen sich des Vorbildes
Raphael'scher Kompositionen bedient (Malvasia: Felsina pittrice, ed.
Zanotti II, 169). Damit beginnt eine Kritik, die, schon vor 1672
von Felibien in seinen „Entretiens" bekämpft, sich im XVIII. Jahr-
hundert bis zu Verdammungsurtheilen steigert. Auf Mengs'schen
 
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