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Volkszeitung: Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung des ganzen badischen Unterlandes (Bezirke Heidelberg bis Wertheim) (3) — 1921

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Nr. 91 - Nr. 100 (20. April - 30. April)
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HKjSslSsrg, NsnnersiLg- 2^. Wril Ä921
Nr. 92 » 3. LgHrgsnZ

Tageszetiung fßr die MerfiäkigßLsvSlksruW Her UmtSSKMke Heidelberg, Meswch, Ginshsim, Epm'ttzelr-EkvaA MssZach, Buchse MriöhsLm, SskSskz
TauberSischofsheim und Wertheim»
DxrimwsE.: Wr Mn« u. äußrerpsllM, ÄsAsitt Hast und Hru;Aksn:
Dr. KrauSr für Kommunal«-/ s-zislr Kundschau und Lokaler:
O. Gelds!; für die Anreizen: H. Horch!er, sLmki. in HrldMrrz.
Dmckund Ärrlcrz der rinierssdi Hsn Brrlazsanstalt A. irr. S, H., Heide! derz.
ÄeschZft-stelle: SchrSderstraßs 39.
Femsprecher: Anrelzen-AnnahmersrLKedattion ZS43.

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Dle eluspaltiae petltzelle (3ü mm brr!!) SS Nfq., REams-Anzrizen
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Gebrlmmittel-Ameigen werden nicht arzfzsnom nrn.
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Kr. Heidelberg, 31. April.


„Für ein paar kurze Morgenstunden ist in Potsdam Las wil-
helminlsche Zeitalter noch einmal zu gespenstisch strahlendem Leben
erwacht." So beginnt die „Boss. Zeitung" ihren Bericht über dis
Beisetzung der Exkaiserin. .Nicht nur in Potsdam, in ganz Deutsch-
land bemühen sich unsere Alldeutschen und Monarchisten aus der
Beisetzung Augusta Viktorias ein politisches Spektakelstück ersten
Ranges zu machen. Wenn man die geradezu wollüstigen Berichte
der deutschnativnalen Blätter liest — dis „Deutsche Z eitung"
sprich! vor, dem echten Hohenzvllernwetter, die „S ü d d. Z t g."
nralt das Erscheinen der Generalität des alten Heeres, die in großer
Friedensunform erschien und sagt: „alles andere ist kaiserlich, die
olle kriegerische Pracht des wilhelminischen Zeitalters" -- wenn man
in den W.T.D.-Berichten der bürgerlichen Matter liest, wieviel
Taufende höhere Beamten der Republik, wieviel Formationen
der Reichswehr, wieviel Studentenkorporationen und Schul-
vereinigungen an der Beisetzung teilnahmen, so greift man sich an
den Kopf, man traut seinen Augen kaum und srägt sich: ja leben
wir eigentlich in einer demokratischen Republik oder noch in den
herrlichen Zeiten Wilh.elm des Letzten.
Wir haben volles Verständnis dafür, daß Hunderte und Tau-
fende, dis ehemals dem Hofe nahestanden oder die eben auch heute
nach monarchistisch sind, sich zu dieser Bestattung der letzten deut-
scheu Kaiserin einfinden. Aber unsere Ansicht war, man hätte diese
Tote in aller Stille bestatten Men, und diejenigen, die sich ihr
verbunden fühlen, sollen ihr ein stilles Gedenken weihen. Das wäre
würdig gewesen und hätte vor allem außenpolitisch zu der furcht-
baren Lage gepaßt, in der Deutschland sich gerade jetzt, wenige Tage
vor dem 1. Mai befindet. Wer die reaktionären Drahtzieher woll-
ten es anders. Der Tod Augusta Viktorias mußte politisch ausge-
schlachtet werden, galt es doch den alten Geist der herrlichen Hvhen-
zollernzeiten in Deutschland wieder cmfieben lasten, dem Ausland zu
zeigen, daß wir noch immer dieselben sind wie vor 1914 und daß
dis demokratische Republik nur Maske, hohler Schein ist, geboren
aus der Not des Krieges und der Niederlage. So dichtete man
denn die Legende von der gramvollen Kaiserin, die aus Heimweh
nach ihren Landeskindern, aus Gram über den dunklen 9. Novem-
ber 191ß im Exil gestorben ist. Sv sehr wir nun auch die persön-
liche Tragik der von stolzer Höhe gestürzten Frau mitfühlen können,
sie brauchte sich nicht im Exil zu grämen und nicht im Exil zu ster-
ben. Wenn ihr „Hoher" Herr Gemahl die theatralischen Worte,
die er 8 Tage vor der Revolution verkündete „Kaisrrumt ist Dienst
am Volke" in die Tat umgesetzt hätte und nicht aus Feigheit und
mit schlechtem Gewißen in Nacht und Nebel über die Grenzen geflo-
hen wäre, so hätte die Verstorbene in Deutschland friedlich leben
urch such sterben dürfen als eine unter vielen Begüterten, genau
wie alle dis Ex-Fürsten und Ex-Fürstinnen, die setzt dem Begräbnis
im Wildpark beigewohnt haben. Nicht einige verwegene Verbre-
cher und "Hochverräter haben am 9! November die Monarchie zu
Fall gebracht, nein, sie Hatte sich durch ihre Friedens- und Kriegs-
politik selbst erledigt und niemand auch nicht die Gene-
r als, die jetzt in „großer Friedensuniform" in Potsdam zum
Spektatulum des bürgerlichen Presteschmocks aufzogen, wagte es,
sich schützendsor disMynarchiezu stellen.
Aber was geht die Reaktionäre die Tragik der letzten Kaiserin
als solche an, die Hauptsache ist für diese „camelots du roi" (Lauf-
burschen des Königs), daß man wieder einmal kräftig in Monar-
chismus wacht. Man erzählt, daß Tausende, die, um überhaupt
im Wildpark einen Platz zu, bekommen, dort übernachtet hatten, am
Morgen beinahe erstarrt waren, daß ein aller Schlvßkastellvn „Mil-
lionen Deutscher! Millionen Deutscher!" geschluchzt habe. Man
schildert den Aufzug der Reichswehr, die leider nur Sonntag-
Äusgehanzug und Mütze getragen habe, wogegen die allen Gene-
rale in Helm und Paradeuniform erschienen sind, während zugleich
überall schwarz-wsiß-rot halbmast geflaggt war. Und nun läßt
man-sie aufmarschieren, die Hindenburg, Ludendorff und Tirpih,
die Prinzen und Prinzessinnen des königlichen Hauses, die Groß-
herzoge und Fürsten, „mehr als ein halbes hundert deutscher Fürst-
lichkeiten", heißt es in dem Bericht. Fehlen dürsten natürlich auch
nicht Türken und hohe russische Offiziere (v. Bermondt), zwar keine
Söldlinge Lenins, dafür aber Führer der Baltikumer und des Kamp-
fes gegen Sowjetrußland. Und dann heißt es zum Schluß:
„Das Trauergefolgr zerstreut sich. Hindenburg und Ludendsrff ha-
ben sich auf einem Seitenwege entfernt, um abseits und ungesehen ihren
Wogen zu erreichen. Aber es ist, als habe eine Ahnung die
Massen doch hinge, ogen; im Nu ist der Platz schwarz von
Menschen, und jetzt nach der Geier, wo die Stunde nicht mehr Schweigen
heischt, werden die beiden Männer um jubelt und umdrängt,
auch der Feldmarschall Mackensen, der wenige Augenblicke später mit
feinem wehenden weißen Schnurrbart hier erscheint. Man ist fr unter
sich, -uch der Böswilligste kann also keine „Provokation" in den Jubel-
rufen erblicken. Ts sind weder die Offiziellen der Republik da, deren
Minister, noch die llnosfizielien, ihre Rötlichen und Roten bis zu den
«Kommunisten. Als einziger Vertreter der Regierung hat sich, soweit
bisher bekannt ist, ein Filmvperateur am Bahnhof Potsdam gemel-
det, der, wie er angab, im Auftrag einer hohen Stelle den Trauerzug
„historisch fest leg en" müsie. Wer den Zug erlebt hat, der be-
darf dessen nicht, denn er trägt das Kostbarste im Herzen. Noch' nie,
selbst beim Heimgang des alten Kaisers nicht, war die Beisetzung von Ge-
krönten bei uns zur Voikssache geworden. Soeben nach der Geier hat
der ungeheure Druck von Zehntausenden die Postenkette gesprengt und
der Antikentempel, dessen Torr einstweilen geschloßen werden mutzten,
ist von Schluchzenden eng umdrängt. Eine Verlassene wurde zu Grabe
getragen und ein verlassenes Volk, dessen Not nie größer war, er-
kennt an der Bahre hoch einmal die ganze Grshe seines Unglücks."
Die Reaktionäre jubeln, wie sie schon am letzten Freitag abend
nach der Trauerfeier in der Kaiser-Wilhelms-Gedächtniskirche

Dis rrsAZ prsAWche NsgierMUg. — Nsmrsah!
des MiUiftsrpsäftdTNtSN.
Berlin- 26. April. Von gut unterrichteter Seite wird uns
mitgerM: Ministerpräsident Stegerwald, der sich dem Land-
tag noch einmal nach der Zurückgabe seines Posten? zur Wahl
stellte, beabsichtigt für den Fall feiner Wiederwahl folgendes Kabi-
nett zusammenznstellen: Sieger Wald (Präsidium und Volks-
wohlfahrt), Fischbeck (Handel), Dr. am Zehnhc-sf (Justiz),
Reichsminister a. D. Schiffer (Mitglied des Reichstags und
Landtags: Inneres), Samisch Präsident des LandesfmanzaWtes
Kassel; Finanzen), Ministerialdirektor Warmbold (Landwirt-
schaft), Staatssekretär Prof. Dr. Becker (Wissenschaft, Kunst und
Volksbildung). Das neue Kabinett wird sich in dem oben ange-
dntteten Falle am Freitag dem Landtag vsrstellm.
Berlin, 20. April. Im preußischen Landtag unterbrach
nach 5 Uhr Präsident Leinert die Beratung der deutsch-
nationalen Anträge über die Zwangswirtschaft durch Verlesung
eines Schreibens des Ministerpräsidenten Ste-
gs r w a l d, worin es heißt:
„Im Laufe der Verhandlungen über die Bildung des
preußischen Ministeriums kam mir zur Kenntnis, daß
ein Teil der bei meiner Wahl zum Ministerpräsidenten auf mich
entfallenen Stimmen unter irrigen Voraussetzungen
abgegeben worden ist. Da ich nicht gesonnen bin, aus diesem An-
laß wegen des vermeintlichen Mißbrauchs des in mich gesetzten
Vertrauens Angriffe auf meine persönliche Ehre auf mich zu ziehen,
Halle ich eine erneute Wahi des Ministerpräsiden-
ten für notwendig. Ich ziehe daher meine Annahmeerklärung
hiermit zurück."
Die Verlesung rief eine große Bewegung im ganzen Hause
hervor und wurde mit Bravorufen auf der äußersten Linken be-
gleitet. Präsident Leinert vertagte die Weiterberatung und setzte
auf die Tagung der Dsnnerstagssitzung als ersten Punkt die Wahl
des preußischen Ministerpräsidenten.
Berlin, 20. April. Zu dem heute im Landtag verlesenen
Schreiben des Ministerpräsidenten Stegerwald erfahren wir von
zuverlässiger' Leite, d'ütz die Angelegenheit nur formale Bedeutung
hat, da die Mehrheit des Landtags entschlossen ist, Stegerwald
erneut zu wählen. Stegerwald legt Gewicht darauf, vor seinem
Amtsantritt als Ministerpräsident die politisch-moralische Atmo-
sphäre gereinigt zu wißen.
Das also ist das Ergebnis der. 'Komödie der preußischen Re-
gierungsbildung: ein Minderheitskabinett, aus Zentrum
und Demokraten, das im Lanidtag nur etwa IIO Dvn 428 Stimmen
hinter sich hat. Es ist ganz klar, daß diese Lösung nicht von Dauer
sein kann, vor allem aber, daß die Sozialdemokratie einem solchen
Ministerium nicht mit wohlwollender Neutralität gegenüberstehen
kann. Unsere Partei war bereit, wieder in der alten Koalition mit-
zuarbeiten. Die Demokraten und das Zentrum aber wollten nicht
ohne Volkspartei, was unsere Partei nicht mitmachen konnte. -Aus
all den Gründen, die wir des öfteren schon hier bargelegt haben.
Früher oder später wird es also Zu einer reinlichen Scheidung, ob
Rechts- oder Linksregierung, kommen müssen, denn nur mit einem
ganz zielklaren Aktionsprogramm, das dann auch durchgeführt Mrd,
kann eine Regierung heute die -stoßen Fragen der Gegenwart mei-
stern, nicht durch ein ewiges Hin und Her, zwischen rechts und links,
wobei dann jeweils die ziemlich unproduktive goldene Mitte her-
auskomntt.
„Hoch Hshenzollern! Nieder mit der Republik" und das alles trotz
des erbärmlichen Elends, in das uns der Größenwahn des letzten
Hohenzollers gestürzt hat, trotz der neuen Zvllmaßnahmen im
Rheinland, trotz der drohenden Besetzung des Ruhrgebiets. Was
schert diese nationalistischen Herrschaften die Schwere der Wieder-
gutmachungsfrage, die soziale Not Millionen Deutscher, wenn sie
nur ihren Kaiser wieder haben! Armes deutsches Volk,
mußt du denn mit Gewalt dich noch tiefer ins Elend stürzen. Wo
werden diese Generale in Friedensunisvrm, diese feudalen Stuben,
ten sein, wenn die französischen Heere vormarschieren? Spurlos
verschwunden. Aber die deutsche Arbeiterschaft wird erneute Not
und Last zu tragen haben. Merken denn jetzt unsere Arbeiter bald,
was der Wind weht, daß die Republik in höchster Gefahr ist und
daß alles Trennende beiseite gestellt werden muß zum Kampfe um
die Erhaltung der Republik, um die Festigung der Demokratie gegen
den Wahnsinn unserer Nationalisten und Monarchisten, die uns
einem neue» gräßlichen Bluten und Morden entgegenführen wollen?

Deutscher Reichstag.
Berlin, 20. April.
Dank an Oberschlesie».
< Zu Beginn der heutigen Sitzung bringt Präsident Lobe den
Dank des Hauses an Oberschlesien für die Abstimmung zum Aus-
druck. Das deutsche Volk verlangt Gerechtigkeit für sich, wenn die
Abstimmung umgekehrt ausgefallen wäre, wäre die Entente keinen
Augenblick im Zweifel, wem sie das Land zuweisen solle.
Präsident Löbe teilt ferner mit, der Abg. Levi habe eine
Mitteilung an das Haus gerichtet, berzufolge er bei seiner Wahl
ein Dlankoformular unterzeichnet habe, des Inhalts, daß er unter
bestimmten Voraussetzungen sein Mandat niederzulegen habe. Diese
Erklärung erkläre er als zurückgezogen für den Fall, daß heute ein
Mandatsverzicht einlaufen solle. (Stürmische Heiterkeit.)
Der Entwurf über die
Festsetzung einiger Grenzabschnktte des Ssargebkeks
wirb nach erster Lesung einem Ausschuß überwiesen. In verschiede-
nen Reden kommen die Leiden dex Saarländer zum Ausdruck, Da?

Saargebiet steht vor dem größten Elend, um seiner politischen Ziele
willen läßt Frankreich die wirtschaftlichen Interessen des Saarge-
brcts zugrunde gehen. Ein Antrag Hoffmann (Komm.) auf
Entlassung des in München verhafteten "Abg. Wendelin Thomas
wirb einem Ausschuß überwiesen.
Es folgt der Antrag Aderholt (Komm.) wegen Aufhebung
der Verordnungen über Ausnahmebestimmungen in Eroßhamburg,
der Provinz Sachsen, in Düsseldorf, Arnsberg und Münster, sowie
die Beseitigung der außerordentlichen Gerichte. Verbunden wird
damit ein Antrag Müller- Franken (Ssz.) auf Wanderung der
Ssndergerichte.
Abg. Dr. Rosenfeld (Komm.) begründet den kommunisti-
schen Antrag und die Notwendigkeit der Aushebung, well die Vor-
aussetzungen heute nicht mehr zuträfen, kdie "Ausnahmegerichte feiert
zudem ein glatter Verfassungsbruch. Jeder Angeklagte habe ein
Recht daraus^ an der Stelle vor Gericht zu stehen, wo die Tat be-
gangen wurde. Das werde durch die Ausnahmegerichte illusorisch
gemacht. Wenn gesagt werde, die Gerichte lägen wegen der Be-
schleunigung des Versährens im Interesse der Angeklagten,'so sei
das ein Schwindel. Derselbe Richter, der im Falle Hiller-
Helm backe sich so mit Ruhm bedeckt habe, sei auch der Vor-
sitzende der beiden Ausnahmegerichts. Das sei ein Hohn auf dis
Rechtsprechung. Die Rechtsprechung richte sich eben nur gegen dis
Arbeiter. Hierhin gehöre auch das Urteil in der Siegessäule-Ange-
legenheit. Die Zweifel, ob hier wirklich ein Attentat vorliegt, sind
nur zu berechtigt. Aufklärung hierüber ist ja nicht geschaffen wor-
den. Gegen dis „Rote Fahne" sei ohne jeden Rechtsgrund einge-
fchritten worden. Gegen,,die Arbeiter werde mit Lügennachrichten
und Greuelmärchen gewütet und -Staatsamvälte und Richter stürz-
ten sich mit einer wahren Wvhllust auf solches Material.
Iustizminister Heinze: Die Annahme, als entspränge die
Verordnung einem Rachegefühl, besteht nicht zu Recht. Was der
Abg. Rosenfeld vorbrachte, sind Entstellungen und Uebertreibungen.
Die Berliner kommunistische Zentrale hat offiziell die Aufnahme
des Kampfes angeordnet. Die Arbeiter haben zuerst geschossen,
nicht die Sipo. Das steht dokumentarisch fest. Der Minister ver-
liest sine kurze Zusammenstellung aus den amtlichen Berichten, auf
Grund besten die Verordnung erfolgte, und schildert die Mißhand-
lungen der gefallenen Sipvleute, die ein Schlaglicht auf das ganze
Milieu werfen. 'Es handle sich um Ausnahmefälle, die auch im
Ausnahmeverfahren geregelt werden müßten. Pflicht der Justiz-
verwaltung war es, entsprechend Zu handeln. Hier lagen ganz kon-
krcte Fälle vor, die besonders zusammengestellt und gleichzeitig zur
Erledigung gebracht werden sollten. Diese Dutzende von Hochver-
ratsprozesten hätten auf dem gewöhnlichen Wege gar nicht so rasch
erledigt werden können. Die Verordnung widerspricht im übrigen
der Verfassung nicht. Der Art. 48 gesteht dem Reichspräsidenten
ausdrücklich das Recht zu, gewisse Gesetze abändern zu können.
Weiter ist nichts geschehen. (Proteste links; Zuruse: Wo steht das
geschrieben?) Bor einer Aenderung der Verordnung muß ich ent-
schieden warnen. Jugendliche Angeklagte werben ja nach Möglich-
keit nicht vor diese Gerichte kommen. Hier handelt es sich ja um
frische Fälle, wo noch keine Zeugen vorhanden sind. Da ist eine
rasche Beweisführung möglich. Hier wurde viel von Bluturteilen
und schweren Strafen geredet. Das ist alles übertrieben. Der
Redner gibt Beispiele dafür, wie rasch und wie milde die Sonder-
gerichte urteilen. (Zurufe: Unwahre Demagogie.) Hat das gefamtr
Volk erst die Ueberzeugung, daß wieder Gerechtigkeit herrscht, und
daß der Verbrecher seiner Strafe nicht entgeht, dann wird die Ge-
sundung umso schneller erfolgen. (Beifall,)
Präsident Lobe ruft den Abg. Höllein (Komm.), der Mit-
gliedern der Rechte „Teuflische Subjekte" zugerufen hat, zweimal
zur Ordnung.
Das Haus bricht nunmehr die Weitsrberatung ab und erledigt
eine Reihe von Ausschutzberichten.
Donnerstag nachmittag 2 Uhr: Interpellationen, kleinere Vor-
lagen, Weiterberatung. Schluß 6 Uhr.

Politische Ueberstcht.
August Scher!
Unser Verlier St.-Korrespondent schreibt uns:
In Berlin ist am Montag 72jährig ein Mann gestorben, dessen
Wirken dauernde Spüren im deutschen Zeitungswesen Hinterlasten
hat. August Scherl, den wir politisch bekämpfen mußten, war zwei-
fellos eine in feiner Art bedeutende Persönlichkeit. Er war ein
sonderbarer Geselle, Spekulant, Projektenmacher und Gründer von
großem Zug, mit Kleinigkeiten wollte er sich niemals abgeben, und
sein Ehrgeiz ging stets weit über das Ziel hinaus, ein glücklicher
und reich gewordener Zeitungsverlegcr zu werden. Den Verkehr,
die ganze Wirtschaft nach seinen Plänen zu reformieren, das war
sein eigentliches Streben, und weil er hier, aus utopische Wege sich
verlierend, ohne Erfolg war, blieb er unbefriedigt und wurde zum
Menschenfeind. Was ihm gelungen ist, war in seinen Augen wenig,
und doch wird ihn die Geschichte der deutschen Presse als eine ihrer
stärkste» und erfolgreichsten Persönlichkeiten verzeichnen.
Sohn eines Buchhändlers, in Düsseldorf geboren, wurde er
selber Kolportagebuchhändler, der in der "Wahl der Ware, die er
verkaufte, nicht eben wählerisch war. „Pistole und "Feder" war der
Titel eines Ramans, durch dessen Vertrieb er den Grundstock zu sei-
nem Vermögen legte. Nachdem er sich vorübergehend in Berlin
als Herausgeber einer Zeitschrift, in Köln als Theatergründer ver-
sucht hatte, kehrte er Anfang der achtziger Jahre nach Berlin zurück,
wo er mit geringem Betriebskapital den „Berliner Lvkalanzeiger"
begründete. Schon durch die Wahl des Namens erriet er sein Pro-
gramm, den Bedürfnisten des Publikums soweit, man kann wohl
sagen, so tief w ste möglich, entgegenzukommen. Der „Lokal-
Anzeiger" begann als Klatfchblatt des Berliner Spießers, aber er
wurde mehr als Las, weil er feinen Nachrichtendienst bald zu einer
 
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