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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 11,2.1898

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Heft 13 (1. Aprilheft 1898)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7956#0039

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reizbar gekannt. Jhr inaret so von Eurem eigcnen Denkcn cingenommcn, datz
dcr Genius anderer Euch ein toter Buchftabe blieb. Jch habe Euch nur Euch
selbst begreifen sehen . .. Jn dem Maße wie um Euer geistiges Wcsen der
Schnee des Alters sich gehäust hat, hat sich allcs geändert; es scheint, dah
umgekehrt roie die andern Menschen Jhr sehr spüt die Fülle, die Frische des
Lcbens, die Reinheit, die Bestimmtheit, die Weite des Blicks und die wahre
Kenntnis Eurer selbst und der andern errungen habet.

Michelangelo. Es ist so, in der That. Der Himmel hatte mich — ich
will cs gestehcn — bci der Geburt mit einer Thatkraft ausgestattet, die zu
meiner LeibeSbeschaffenheit in keincm Vcrhältnisse stand. Jch erriet mehr als
ich imstande war zu sehen, unö ich sah weiter, als ich reichen konnte. Alles
was um mich her auftrat, erschreckte mich; ich hatte Angst, dah meine zu be-
schränkten Kräfte noch zersplittert werden könnten, und ich zwang mich mit
Wut und einer mürrischen Hartnäckigkeit, meine Blicke auf das geheiligte Ziel
zu sammeln, das ich zu verfehlen fürchtcte. Jndesscn fühlte ich sowohl meine
Hossnung, zum Siege zu gelangen, als meine Furcht, das Ziel zu verfehlen,
stch verdoppeln, während ich gewahrtc, datz jeder Schritt, so mühselig, so hart,
so beschwerlich er auch sein mochte, mich ihm doch näherte. Jch brachte mein
Leben zwischen der Arbeit und den Anstrengungcn zu, die mich auher mir
brachten; ich wollte die Natur in all ihren labyrinthischen Windungen auf ein-
mal ergreifen, und ich erkletterte ihre Gipfel, indem ich mich mit den Händen,
mit dcn Fingern, mit den Fühen, mit den Knicn, mit dem ganzen Körper an
das anklammerte, was sie mir an Stützpunkten darboten. Jch bin Bildhauer,
Maler, Dichter, Baumeister, Jngenieur, Anatom gewesen; ich habe Kolosse in
Stein ausgehauen und Figurinen in Elfenbein ziseliert; ich habe die Wälle von
Florenz und Rom entworfen, Bastionen errichtet, Fronten defiliert, Glacis aus-
gcmessen, und nicht fern von dem Gebäudc, dessen Wand ich mit der Offen-
barung des jüngsten Gerichtes gezeichnet habe, ist es mir gelungen, die unge-
heure Kuppel des Fürsten der Apostel bis zum höchsten Punkte der Atmosphäre
emporzuführen. Kurz, wenn ich nicht alles vollendet, was ich gewollt habe,
so ist es doch gewih, daß ich einiges wenige gethan habe. Eines Tages habe
ich mich an einem so hohen, einem höheren Platze gesehen, als ich hatte träumen
oder wünschen können. Die Päpste, die Könige, der Kaiser, die Fürsten haben
mich geehrt. Die Künstler haben mich zu ihrem Ersten ausgerufcn, und ich
habe nichts mehr weder von mir selbst zu verlangen gehabt, der ich wußte,
was ich zu thun vermöge, noch von der Welt, die mir mehr gab, als ich von
ihr erwartet hatte. Da, immer noch im Arbeitcn, ist mein Herz zur Nuhe ge-
kommen; der Zweifel, die Furcht, den Weg zu verlieren, sind von mir gewichem
Jch habe mir Muße ausgefunden, um zu betrachten, zu schätzen, zu loben, zu
lieben. Die Aufregung und die Ungeduld haben aufgehört, mich dem Sturm
der Ungewihheit preiszugeben, und ich bin, wohl oder übel, der Mann gewor-
den, der ich heute bin und der, um geboren zu werden, der Jahre bedurfte und
sich im Alter jung findet.

Die Marchesa. Jch sehe es gern an Euch, Michelangelo, dah, wie-
wohl Jhr immerfort dem elenden Gang, den der Geist unsrcr Zeitgenossen für
die Zukunft genommen, Eure Aufmerksamkeit zuwendet, dcr Grad des Ver-
falles, worin Jhr ihn seht, Euch doch weder Acrgernis noch Widerwillen mehr
verursacht.

Michelangelo. Er flöht mir ein tiefes und inniges Mitleid ein.
Diese Welt, die ich betrachte, ist ein Genoß, mit dem ich eine lange Reise zurück-
 
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