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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 11,2.1898

DOI issue:
Heft 20 (2. Juliheft 1898)
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Bischoff, Anton: Berliner Musikleben
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https://doi.org/10.11588/diglit.7956#0251

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ZweitenS, daß Weingartncr sowohl wic Nikisch die lebendcn deutschcn Kom-
ponisten völlig ignorieren. Das ist überhaupt nicht zu rechtfertigen. Wenn
Weingartncr nach den skandalösen Vorgängen im Opernhause bei der Auffüh-
rung seines „Gencsius" darauf verzichtet, an dieser Stättc cin Werk eigncr
Komposition aufzuführen, so begreisen wir das nur zu gut; aber warum hat unS
Nikisch nicht mit den „Gefilden dcr Seligen" von Weingartner bekannt ge-
macht? Warum haben beide Dirigenten unsern grötzten lebenden Komponisten,
den genialen Richard Strautz mit Verachtung gestraft? Sein „Till Eulenspiegel"
wäre mit Jubel wieder gehört worden; „Also sprach Zarathustra" hätte zweifel-
los das grötzte Jnteresse erregt, ganz zu schweigen von der Spannung, mit der
man Strautzcns jüngstem Werke „Don Quijote" entgegengekommen wäre. Es
scheint, datz man, um Strautz zu hören, ins alte, heilige Köln zum alten, ehr-
würdigen Gürzenich wandern mutz, wo der alte, ewig junge Meister Wüllner
die Werke von R. Strautz aus der Taufe hebt. Warum hat jerner Schillings,
dcr Schöpfer der Jngwclde, keine Beachtung gefunden? Das Vorspiel zum
zwciten Akt dieser Oper ist cin in sich so geschlossenes Mnstkstück, datz es sich
vorzüglich sür dcn Konzertsaal eignet. Eines sei noch erwähnt. Nikisch brachte
dic italienische und Weingartner die schottische Symphonie von Mendelssohn
zu Gehör. Das war lobenswert; denn wenn man nicht ab und zu solch ein
Symphoniechen, das so dünn und langweilig wie ein Bächlein übcr Wiesen
daherslieht, vorgesetzt bekäme, so könnte man glauben, der grotze Wagner hätte
jcncm äußerst cleganten, feinen Herrn Unrecht gethan.

Was nun die Dirigenten Weingartner nnd Nikisch selbst anlangt, so
sind sie internationale Grötzen und repräsentiercn neben R. Strautz am vor-
züglichstcn den, eigentlich durch H. v. Bülow aufgekommenen, Typus der Wan-
derdirigentcn. Weingartner scheint mir der gröherc, crnstere Musiker zu sein.
Er geht an das Werk mit ciner gewissen Großzügigkeit heran, weitz das
Wesentliche mit starker Energie zu erfassen und dabei Nebcnsächliches doch be-
lebend hervorzuholen. Seine Darbietungen sind Gemäldo von wuchtiger Zeich-
nung, wobci jedoch die Farben zu ihrem vollen Necht gelangen; man hat allerdings
das Gefühl, datz Weingartner nicht als urkräftiger Musiker, wie z. B. Hans Richtcr,
vorgeht, sondern alles von einem gewissen philosophischen Standpunkt als hoch
modcrner, nervöser Mensch — ich muh dabei immer an Stirner und Nietzsche
denken — betrachtet und ausführt. Jn seinem Wesen liegt aber doch etwas
durchaus „Maskulines", wcnn es auch nicht annähernd so stark in Erscheinung
tritt, wie bei Mottl oder dem derben, kerngcsunden Hans Richter. Mit Raffi-
nements arbeitet Weingartner selten; seine Ausführungen sind gesund und
natürlich und haben nie jenen pikanten baut-goür, mit dem Nikisch unsere
Nerven so sinnlich zu kitzeln versteht. Dieser, Nikisch, ist der Typus des hoch-
moderncn ün äe siLcls-Dirigenten. Seine Auffassung ist im Gegensatz zu Wein-
gartner cntschieden „fcminin" ; etwas weichlich slavisches licgt darin, und ich
glaube, datz die Frauen ihn vergöttern. Nicht mit einer kräftigen — ich möchte
sast sagen vlämischen — Sinnlichkeit gcstaltet er ein Werk aus, sondern mit
ciner geheimen, schummerigen, dekadenten Wollust; mit den tollstcn Naffine-
mcnts weitz er uns bis aufs höchste aufzuregen; einc sündige, schwüle Luft
umgibt alle Werkc, die er unter seincn Taktstock bringt, und selbst die keusche
Freischütz-Ouvcrtürc gewinnt ein Gran verbotener Lust unter ihm; bald bcfolgt
cr hicr Wagncr, bald hetzt er wie wild darauf los — immer aber reitzt er
uns hin; unser Gefühl geht mit dcm Verstande durch. Wie cr die Metallbläser
zu dcn unglaublichsten Wirkungcn heranzuhvlen vcrsteht, ist gar nicht zu sagen;
 
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