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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 3.1889-1890

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Heft 2
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Bulthaupt, Heinrich: Was ist dramatisch?
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https://doi.org/10.11588/diglit.8793#0031

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!<rankheitsberichte. Daß sich mit dieser vorliebe des
Dramatikers für geistige und sittliche Lntartungen auch
eiue große Runsi der psychologischen und dramatischen
Lntfaltung und Entwicklung verbinden kann iwie
sie sich „Nosmersholm" z. B. thatsächlich findet),
"is kommt „ur wenigen zum Bewußtsein. Das Aus-
^^laggebende für die Nkenge ist das gemeineZnteresse
a>n Ltosf „ dieser muß durch etwas Unerhörtes und
ilngeheiierliches fesseln; thut er das, dann kümmert man
hch um die Mittel, mit denen der Autor seine Re-
sultate erreicht, blutwenig — wer ist denu auch im
sotande, die Lchthsit der Degenerationserscheinungen
>u den Ibsenschen Dramen zu kontroliren? — und
»och weniger kümmert man sich darum, ob die ver-
meinte wahrheit in ihrem letzten Grunde zugleich
5chönheit, und ob das lverk, das sie verkündet, zu-
gleich ein Aunstwerk ist. Lntdeckt man so beiläufig
darin den Beweis für irgend einen naturwissenschaft-
lichen Lehrsatz oder besser noch irgend eine Uioral
gewöhnlichsten Schlages, so ist das mehr als genug;
und ist die Ausbeute des ganzen Stückes gar noch
dunkel, findet sich in ihm selbst vielleicht dieser oder
jener unklare und vom Autor absichtlich dunkel ge-
lassene punkt — um so besser! Das Geheimnisvolle
ist eine würze mehr. Nian zankt sich darüber, ob
das Mädchen in der „w.ldente" die Tochter des
alten lverle oder des Photographen Lsjulmar Lkdal
ist — wie kann man von dem publikum verlangen,
daß es über diese Frage hinausdringt? Die Folge
davon ist denn auch eine heillose Ronfusion des Ur-
teils. Nicht zwei Gelehrte sind über die rein that-
sächlichen Voraussetzungen der neuesten Dramen Ibsens
einer Ansicht, und noch vor Rurzem konnten wir es
erleben, daß ein so offenbar novellistisch geartetes,
schwachss Stück wie „Die Frau vom Nieere" hundert
verschiedene Deutungen erfuhr, über deren Diskussion
man ganz übersah, daß dies j)rodukt, das man so
stillschweigend unter dem Titel eines Dramas hin-
nehmen soll, auf diesen Namen, geschweige denn auf
den Nuhm eines dramatischen Nkeisterwerks auch nicht
den geringsten Ansxruch erheben kann. <Ls ist be-
kanntlich die Nrankheitsgeschichte eines mit einer fixen
Idee behafteten, vielleicht hypnotischen lveibes, eine
Nrankheitsgeschichte, deren Aufklärung uns während
mehrerer Akte durch die äußerlichsten, unwürdigsten
theatralischen ksandlangerkniffe oorenthalten wird, und
die bis zum fünften Akt vollkommen entwicklungs-
los verharrt, bis nun xlätzlich eins kvendung eintritt,
die von den Linen als eine Befreiung und sittliche
Lrlösung der Lseldin ausgesaßt wird, während Andere,
die den Verfasser wahrscheinlich besser kennen, sagen:
Ihr irrt, am nächsten Tage hat sie trotz aller Frei-
heit und Verantwortlichkeit ihren Raptus wieder, und
noch Andere ihren Triumph in eine Niederlage um-
wandeln und verkünden: die „übsrströmende Rraft"
dieser Frau ist nur övsterie, sie hätte dem „fremden
'Ranne" ins Leben folgen sollen; diese große Gelegen-
hat sie schmählich versäumt, sie bleibt auf ihrer
^ enden Lcholle haften. Ich möchte bei dieser Ge-
^genhejt nicht auch an Stelle der küustlerischen
Btreit um diese oder jene Auffassung des
>a lachijch^ setzen — aber eins scheint mir denn
co 1 er Beachtung wert. Dieselben Niänner, die
der vermeinten sittlichen Rettung der ungesunden Frau
! iLIlida zuzubelten, hoben auch ihren Gatten, den ^errn

kvenzel, als das Nkusterbild eines „xositiven" Lharak-
ters, eines „normalen" Niannes auf den Lchild —
so wenig war man sich eines gesunden Lmpfindens
bei Ibsen noch gewärtig und so sehr hatte man sich <

an die Rrankenluft seiner Dramen gewöhnt. Denn
was thut dieser kvenzel? <Lr holt sich seine sittlichen
Lntschlüsse aus einem Tognacglase, das bei den er-
fahrensten Auslegern des Dichters zu einer wahren
Riesenflasche wird, und als der „fremde Niann" seiner
eigenen Frau in seiner Gegenwart wiederholt die
frechsten Sottisen sagt und ihn, den Gatten, kurzweg
ignorirt, unterläßt er, was in dieser Ätuation einzig
xositiv, normal und gesund gewesen wäre: er ünter-
läßt es, den Unverschämten beim Rrag'en zu xacken
und ihn durch dieselbe Thür hinauszubefördern, die
zu passiren der wunderliche Fremdling so hartnäckig
vermeidet. Seltsame verwirrung der Begriffe! Nun
hört man zwar immer und überall, daß die Größe
und Bedeutung einer neueren Lrscheinung sich schon
in dem Gtreit bekunde, den sie erregt, in dem allge-
meinen Interesse, das sie auf sich gezogen. Das
trifft bis zu einem gewissen Grade zu, auch bei Ibsen.
Aber wenn uns ein Stück wie die „Frau vom Nkeere"
als cin Nkeisterstück aufgetischt werden soll, als „das
Drama der Gegenwart", dann beginnt die Lierrschaft
des Schwindels, und in dieser Beziehung gleicht die
Neklame sür die „Frau vom Nkeere" der Bank des
sZohn Law, den Runststücken des Giusepxe Balsamo,
der sich Lagliostro nannte, dem Baunscheidtismus und
dem lvunderwasser von Lourdes. Ich glaube, man
wird sehr bald über die groteske Verirrung lächeln,
und ich fände es schön, wenn der vortreffliche Dichter
und seine unerschrockenen partisanen in eine solche
kseiterkeit einstimmten.

Ls versteht sich von selbst, daß hier nicht mit
wenigen kvorten ein „Ratechismus der Dramaturgie"
aufgestellt werden soll. Ich wäre der Letzte, der sich
unterfangen möchte, ein künstlerisches Gesetz, das zum
gräßten Teil noch unenthüllt und beständigen Ver-
änderungen ausgesetzt ist, in eine Formel zu xressen.
Lrkennt man aber die Forderung der gleichmäßig
fortschreitendenLntwicklungderLsandlung
durch die Lharaktere im Drama nicht mehr an,
dann würde man völlig im Leeren schweben, und
in dieser Beziehung wäre es gut, wenn unsere Dra-
matiker sich ein „Nemento" zuriefen. Und doch droht
sie, ernstlich uns verloren zu gehen. Zwischen dem
äußerlichen Lffektdrama und den xathologischen Unter-
suchungen des Norwegers scheinen Abgründs zu liegen
— aber das Gefallen an ihnen geht auf dieselbe
(tzuelle, das verlangen nach starken Nervenreizen, das
Ausbengen vor dem Gesunden, Ruhig-Gesetzmäßigen
zurück, und während sie in besonderem Linne als
„dramatisch" gepriesen werden, die einen in ihrer
Thatsächlichkeit und Rnaxpheit, die andern in ihrer
Gründlichkeit, entfernen sie sich Beide vom Drama-
tischen weiter und weiter. Hier liegt eine große Ge-
fahr. Die „bunte ksandlung" ist so wenig dramatisch
wie das verweilen im geheimen Nat der Gedanken
und Gefühle — Duelle, Tourniere und Schlachtszenen
sind es so wenig wie die Darlegung irgend eines
Gemütszustandes, sei derselbe noch so krankhaft; erst
die aus dem innersten Leben der Seele sich erzeugende
und fortsxinnende, steigende nnd fallende Uandlung
giebt ein Drama. Deinricb Wultbaupt.
 
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