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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 3.1889-1890

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Heft 8
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Spitteler, Carl: Dichter und Pharisäer
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8793#0128

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laut welchem verdiente Anerkennung, oder gar Lhre
und Ruhm, in der Iugend oder im rüstigen Mannes-
alter genossen, giftig wirkt, da leicht eine Vervoll-
kommnung der Meisterschaft, wenn nicht Schlimmeres
daraus erfolgen kann; es wird demnach Iedermann
ermahnt, denjenigen, der sich etwa unvorsichtiger
weise schon in jungen Iahren auszeichnet, vor der
Berührung mit den genannten unheilvollen Stoffen
ängstlich zu behüten. Den pfuschern im Gegenteil
bekommt jede Auszeichnung in jedem Lebensalter
wohl, da es ihnen zur Aufmunterung dient. Iunge
und auch ältere noch rüstige und zuviel versprechende
Meister sollen demgcmäß sofort bei ihrer Ankunft
isolirt und einer lebenslänglichen Tuarantaine unter-
zogen werden, bis eine Medizinalkommission ihren
nahe bevorstehenden Tod, beziehungsweise ihren
vollendeten Irrsinn bezeugt. s)n diesem Falle ver-
sammelt sich das Lxekntivkollegium der Alexandriner,
um über ihre Aufnahme in den literarischen Senat
zu beraten. Ls darf stets nur Liner zugleich in den
Senat aufgenommen werden, und bei der Aufnahme-
feierlichkeit ist strengstens darauf zu achten, daß die
Zlnerkennung des Linen stets den Lharakter einer
Zurücksetzung der Übrigen erhalte; darüber muß in
jedem einzelnen Lalle der Takt entscheiden. Das
Tmpfangsgeschrei muß so laut angestimmt werden,
daß Niemand es überbieten kann, so sichert man sich
das Dorrecht der Verehrung; schreit Tiner um eine
Nnmmer weniger laut, als von den vorsängern be-
sohlen wird, so soll man ja nicht versehlen, ihn des
Neides anzuklagen. Dem Senat ist der platz im
Znvalidengebäude angewiesen; das chemische Labora-
torium zur Tinbalsamirung bei Lebzeiten befindet sich
im ersten Ltock. Zum Danke für die Ausnahme
soll der Senator hinfort nur noch mit den Deputirten
der Alexandriner verkehren, und um seine Kräfte zu
schonen, darf sich das Gespräch einzig um die nötigen
Notizen zu Händen des mit der bserausgabe der
sämtlichen bverke beauftragten Achriftgelehrten drehen.
— Der verfassungsrat der vereinigten pharisäer,
Saddnzäer und Bchriftgelehrten beehrt sich, einer
löblichen Gegenwart und Zukunft mitzuteilen, daß
bsächstdieselben beschlossen haben, die aristokratische
Nepublik der Aünstler und Dichter in eine lVahl-
monarchie zu verwandeln. Wählbar sind in der
Regel nur Tote, ausnahmsweise auch solche Meister,

welche genügende Garantieen der hsinfälligkeit bieten.
wahlberechtigt ist der Reichstag der Alexandriner;
jedem Alexandriner steht überdies das Necht zu, ein
Dutzend gehorsame Schullehrer und Feuilletonisten
mitzubringen; üünstler und Dichter sind von der Ab-
stimmung ausgeschlossen. Insubordination gegen den
einmal erwählten Dichtersürsten in Form unbefugterver-
gleichung desselben mit einem ihm an Nang und Rommando
Nachstehenden soll als bsochoerrat geahndet werden.
Dem Dichterfürsten ist eine mit unumschränkter voll-
macht ausgerüstete, aus der Zahl der Alexandriner
zu ernennende Regentschaft beigegeben, welche in
seinem Namen sämtliche Regierungsgeschäfte besorgt.
Iur prüfung und Linexerzirung der Rekruten be-
zeichnet die Regentschaft eins Rommission von Aon-
stablern; etwaige Bewerber um eine künstlerische
oder literarische Gffiziersstelle haben eine in ge-
ziemender Form auf Stempelpapier verfaßte Bitt-
schrift an die üonstabler einzureichen, widrigenfalls
sie zeitlebens jeden Anspruches auf Beförderung ver-
lustig gehen.

So weit die Alexandriner. lVas sagt hierzu der
Rünstler und Dichter? Nun, der geht seiner lVege
und thut seine lVunder und lVerke. Treiben es Zene
gar zu dreist, so wendet er wohl auch einmal das
bsaupt nach ihnen und macht sich mit einer poetischen
Rketapher Luft. hseutzutags wählt er hierzu mit
Vorliebe Bilder aus der Rlasse der höheren wirbel-
tiere, ehemals hieß es: „G, Ihr Schlangsn, Lseuch-
ler und Gtterngezüchte!" Zm Grunde sind es ja
keine Gttern, sondern blos Blindschleichen. Ium
ünglück der Alexandriner unterstreicht jedoch die Nach-
welt solche Gxklamationen, selbst wenn sie unbillig
sein sollten, doppelt und dreifach mit innigem Behagen.
Deshalb, weil sie den Dichtern so unendlich viel und
ihren Gegnern so unendlich wenig verdankt, weil
serner jene so überaus liebenswürdig, und diese es
so ganz und gar nicht sind. Rlan ist immer von
Neuem versucht, im Namen der Gerechtigkeit ein
gutes lVort für die verwünschten Alexandriner ein-
zulegen. R)er verfolgt indessen ihr Andenken am
wütendsten? Die Alexandriner der jedesmaligen
Gegenwart. Und das ist der ksumor des Rnglaubens.
Lächelt er auch nicht zwischen Tränen, so beißt er
doch in sein eigenes Bein. Rkit diesem versöhnenden
Bilde will ich schließen. Qarl Spttleler.

si

Dicbtung.

* Dermrinn NlNgg vollendet am 22. dieses Mo-
nats sein siebenzigstes Lebensjahr.

Rkan nennt ihn den „Dichter der Völkerwanderung"
— ist doch dem Muude jedes Gebildeten der Name
jenes lVerks geläufig. Gs hat freilich in dem viertel-
jahrhundert seit seinem Lrscheinen noch keine zweite
Auflage erlebt — ein Ausfluß ehrwürdiger deutscher
Zustände, denn der alte Rlassikerwunsch vom Veniger-
Lrheben und Fleißiger-Lesen darf ja heute gelten
wie vor hundert Zahren. Ts ist also eigentlich nur
ein Naten auf gut Glück und ein Nachsagen nach
wenigen vorgesagten Urteilen, das die „völkerwander-
ung" als Linggs bsauptwerk bezeichnet. tvollte der
Aussxruch andeuten, daß Lingg mehr denn alles andere

Nundsckau.

ein <Lpiker sei, so hätte er Unrecht, wollte er sagen,
daß sich in keinem anderen lverke des Dichters mehr
Beweise seiner Schasfenskrast fänden, so hätte er viel-
leicht Recht. Linggs „völkerwanderung" leidet unter
dem ungeheuren Gewichte des durch Zahrhunderte
hingelagerten Stoffs: auch einem Titanen der c>oesie
wäre es kaum möglich gewesen, ihn al; Ganzes zu
einheitlichem Runstwerke zusammenzuschmieden. Über
manche Stelle hin kann sich Linggs lverk nur als
schöngereimte Lhronik forthelsen. Dann aber, oft ganz
xlötzlich, tritt eine mächtige Anschauung auf, eine
kühne vermenschlichung (des ksungers z. B.) oder
das überzeugende Bild einer Landschaft, einer Situation,
eines Geschehens; wir lesen nicht mehr, wir schauen,

us
 
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