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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 3.1889-1890

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Heft 10
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Dresdner, Albert: Die Wandlung des dramatischen Geschmacks
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8793#0160

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wolle man bedenken, daß auf diesem wege eine un-
gleich breitere Masse unseres volkes zum Genusse und
Verständnisse der Runst erzogen werden wird, als viel-
leicht jemals bisher bei uns an ihr Teil uahm. Die
Runst wird mehr eine wahrchafte Dolkskunst werden,
wie ja die Neigung unserer Zeit überhaupt dahin
geht, die verschiedenen Stände auszugleichen und
einander zu nähern. Das aber wiederum bedeutet
nicht mehr und nicht weniger, als daß unser Volk den

ksöhegrad seiner Rultur bedeutend erheben wird.

Ls ist nur erst eine kleine wendung, die sich voll-
zogen hat, nur einen Schatten hat die künftige großs
nationale Runst vor sich geworfen. Der Rritik aber
erwächst die Aufgabe, diese wandlung zu erkennen,
die weitere Lntwickelung durch freundliche ssflege zu
befördern und vor allem einen richtigen Naßstab für
die nächsten Lrzeugnisse unseres dramatischen Schrift-
tumes zu gewinnen. Ntberl Drcsdncr.

Allgeineineres.

Nundsckau.

* „Nswettk der Wewegung" (i'sstüstigue

6u luouvsmsut, j)aris, Fslix Alcan) heißt ein neues
werk von p. Souriau, das als weiterer wichtiger
Beitrag zu jener „Ästhetik von unten" betrachtet
werden darf, die G. Th. Fechner für Deutschland be-
gründete — wir erlauben uns, wegen ihrer die Leser
auf den Nachruf an Fechner (Rw. I, 5) und auf die
Aufsätze von Göller, bsorvicz, Biese, Ljaussegger u. A.
zu verweisen, die der „Runstwart" in den früheren
Zahrgängen brachte. Souriau wie Fechner, so führt
unser Autarbeiter Rarl Lrdmann im „wtagazin" (5)
aus, „verzichten darauf, die Schönheit in ihren ver-
wickeltsten Formen, an den erhabensten Runstwerken
zu studiren: schon bei den einfachsten Fällen eröffnen
sich ihnen eine Neihe noch ungelöster probleme, deren
Lrledigung ihnen zu einer festen Grundlage für ein
solides ästhetisches Gebäude erforderlich scheint. Beide
Forscher gehen ohne alle metaphysischen voraus-
setzungen an ihre Untersuchung, aber sie sind ausge-
rüstet mit den Lrgebnissen und werkzeugen der mo-
dernen naturwissenschaftlichen, insbesondere der physi-
kalischen und physiologischen Forschung. Sie sind durch-
drungen von dem werte einer exakten Nlethode und
suchen einerseits mathematische Ableitungen, anderer-
seits experimentelle Untersuchungen einzuführen, was
sich freilich vorläufig nur in seltenen Fällen als mög-
lich und zweckdienlich erweist. Beide sind darin
einig, daß sie lieber weniges aber Gesichertes bieten
wollen, als scheinbar vollständiges, das sich auf un-
sichere Lsypothesen und willkürliche Annahmen gründet.
«<Ls ist noch zu früh,» — ruft Souriau aus — «die
Abfassung einer allgemei nen Ästhetik zu versuchen.
Seien wir weise genug, einzusehen, daß wir uns erst
in der Ära der Monographien befinden!»" Eine
„Monographie" ist denn auch Souriaus Buch; es ist
der Frage gewidmct: weshalb erwecken gewisse
Bewegungen ästhetische Lust? „Sind die Ur-
teile, die wir über die Lchönheit einer Bewegung
fällen, lediglich den Launen eines zufälligeu indivi-
duellen Geschniackes preisgegeben, gründen sie sich
lediglich auf das Gefühl, oder lassen sie sich auf festere
Grundlagen, auf allgemeingültige Gesetze zurückführen?
Der Verfasser bekennt, diese Frage Anfangs für hin-
länglich einfach und elementar gehalten zu haben;
bei näherem Zusehen aber sei sie immer verwickelter
erschienen; und während er früher den Anspruch er-
hoben, sie erschöpfend zu behandeln, müsse er jetzt
einsehen, daß er sie nur oberflächlich habe be-
handeln können."

Lein werk zerfällt in vier Teile, von denen der
erste, die körperlichen und seelischen Bedingungen be-
trachtend, vermöge deren Mensch und Tier sich besser

so oder so bewegen, sich vor Allem mit Mechanik und
Anatomie befaßt, der ästhetischen Betrachtung aber in
der Lsauptsache nur Material und Vorarbsit giebt. Dann
folgen Abhandlungen über die drei nach F>ouriau
völlig von einander zu trennenden Gruppen, welche
die verschiedenen Bedingungen für 5chönheit einer
Bewegung umschließen, Gruppen, die zwar mit einander
in widerstreit treten können, deren Vermengung und
teilweise Verkennung aber vielfach zu Unklarheiten ge-
führt hat. Die erste jener Gruppen umfaßt die Be-
dingungen für „mechanische Schönheit": die völlige
Anpassung andenZweck. Die zweits Bedingung
liegt im Ausdruck einer Bewegung — - betrachten
wir eine solche, so empfinden wir unwillkürlich die Ge-
fühle mit, welche beim Ausführenden die Bewegung
hervorgerufen haben, und es ist zu untersuchen, welchen
Linfluß die sympathische Gefühlsbewegung auf unser
ästhetisches Urteil ausübt. Die dritte «ZZuelle für die
Schönheit einer Bewegung liegt in ihrer wahr-
nehmung. Nicht mehr Zweck oder geistige Be-
deutung der Bewegung, nur ihr den Sinnen wohl-
gefälliger Schein kommt hier in Frage, denn wie unser
Äuge sich an gewissen Farbenzusammenstellungen vor-
zugsweise erfreut, so hat es auch eine Neigung für
gewisse Richtungen in der Bewegung.

„chchon aus dieser kurzen Übersicht erhellt, daß
das vorliegende werk nicht eigentlich für solche Leser
bestimmt ist, welche nach Büchern über Ästhetik zu
greifen gewohnt sind. Ls liegt in der Natur der
Sache, daß gerade solche personen an ästhetischen
werken sich erbauen, die zwar einerseits nach einer
systematischen Grdnung ihrer Gedanken und einer
Begründung ihrer ästhetischen wertschätzung Ver-
langen tragen, die aber doch andererseits lebhaftes
Bedürfnis nach Befriedigung ästhetischer Neigungen
haben und ein feineres künstlerisches Lmpfinden
durch natürliche veranlagung besitzen. Solchen
schöngeistigen Naturen ist das Studium der Ästhetik
nichl sowohl Zweck, die Lrkenntnis über ein reiches
Thatsachengebiet zu erlangen, sondern Mittel, den
Genuß an künstlerischen Darbietungen zu steigern
und zu vertiefen. Dergleichen Nkenschen haben
aber häufig eine unüberwindliche Abneigung vor ein-
gehender Betrachtung einfacher und scheinbar selbst-
verständlicher Dinge, und mathematische Formeln
vollends erregen ihnen etwa dieselben unangenehmen
Gefühle, wie der Anblick einer chpinne den neroös
veranlagten älteren Zungfrauen. Und wie es gerade
sittlich hochstehenden und zart empfindenden Menschen
eine gewisse pein bereiten mag, ethische werke zu
lesen, in denen alles, was ihnen hoch und heilig
erscheint, einer zergliedernden Rritik und umständlichen



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