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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 3.1889-1890

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Heft 10
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Dresdner, Albert: Die Wandlung des dramatischen Geschmacks
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https://doi.org/10.11588/diglit.8793#0159

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gewinnt er doch allmählich mehr und mehr Boden
und Neigung.

In diese Neihe scheint mir nun auch das Suder-
mannsche chtüch zu gehören. Das Besondere seines
chchicksals aber im vergleiche etwa ;u den Ausführungen
sZbsenscher werke oder des bekannten Dramas von
Lsauptmann liegt darin, daß hier zum ersten Nlale
eine derartige Arbeit einen unbestrittenen, durchschlagen-
den Lrfolg errungen hat. Unzweifelhaft ist dies ein
Fortschritt; will man ihn jedoch richtig bewerten, so
muß man einen scharfen Unterschied machen zwischen
dem rein künstlerischen Fortschritte und dem Fortschritte
der künstlerischen Lrziehung des volkes.

Rein künstlerisch hat man, wie ich glaube, „die
Lhre" vielfach sehr überschätzt. Die schwierige und
delikate Frage der Linführung des dramatischen Ge-
dankens ist auf die denkbar xlumpeste weise erledigt:
er wird in einem längeren vortrage auseinanderge-
setzt. Der Bau der kfandlung, dle Lharakteristik ent-
behren der Feinheit, der Tiefe, der Fülle. Die ge-
lungeneren Gestalten zeugen von einer tüchtigen Be-
obachtungsgabe und einem treuen UArklichkeitssinne,
aber auch sie sind nicht aus jener unmittelbaren An-
schauungskraft heraus geschasfen, welche den wahren
Rünstler macht. ll)o vollends der verfasser aus dem
Rreise der Beobachtung heraustritt, arbeitet er nur
nach romanhaftem Schema, und von der daher ent-
stehenden Unnatur sind z. B. Robert und besonders
Graf Traßf sprechende Beweise. Und viel Gleich-
artiges ließe sich hinzufügen.

Das sind vom künstlerischen Standpunkte aus schwere
Fehler. Aber ist denn dieser Standpunkt der gerechte?
Darf man dies ll)erk überhaupt nach den Gesetzen
des Dramas höchsten chtiles beurteilen? Darf man
den Schriftsteller, dem nun einmal die xlastische An-
schauungs- und Bildnerkraft eines Aeschylus, Talderon,
Shakespeare abgeht, einfach an diesen Dichtern messen?
Ganz gewiß nicht. Dieses sofort Iedermann einleuch-
tende, aber der Tiefe ermangelnde problem, diese
schlichte, jedoch künstlerisch immerhin beschränkte Land-
lung und Lharakteristik, diese starken, aber feinerem
Lmpfinden nicht immer anstehenden j)ointen, — sie
sind in ihrer vollen N)irkung ganz und gar nicht auf
ein durchgebildetes und in höchstem lllaßstabe organi-
sirtes Runstgefühl berechnet, wie die vollendeten N)erke
dieser Gattung, sondern ihre Absicht geht auf ein viel
breiteres publikum, das uneinheitlich zusammengesetzt
ist, dessen künstlerisches Lmpfindungsleben ungleich
weniger geschult ist und daher leichter, ja vielleicht
ausschließlich gröbere lliittel und Lffekte versteht und
genießt. lllit einem N)orte, das Stück trägt alle Merk-
male eines volksstückes.*

Da stehen wir an dem entscheidenden j)unkte. Das
Geheimnis des Lrfolges gerade des Sudermannschen
Schauspiels liegt darin, daß gerade dieses der gegen-
wärtigen künstlerischen Genußfähigkeit großer Schichten
entsxricht. Die Zahl derer, welche eine wirklich be-
deutende künstlerische Bildung besitzen, dürfte in Deutsch-
land noch erschreckend klein sein, und durch eine weite
Rluft sind sie getrennt von den mehr oder minder ge-

* Man wendet diese Bezeichnung freilich gewöhnlich nur
auf solche dramatische lVerke an, welche vorzugsweise auf das
sogenannte niedere volk berechnet sind. Aber ich sehe keine
innere Notwendigkeit, an dieser Beschränkung festzuhalten. D. V.

bildeten Rreisen des volkes, welche immerhin fähig
erscheinen, allmählich ein Runstpublikum zu werden.
Nun hat sich, wie oben ausgeführt, die künstlerische
Teilnahme dieser Rreise seit einiger Zeit bedeutend
gehoben, und in verbindung damit nimmt auch das
künstlerische Verständnis allmählich zu. Nachdem man
lange allen Kunsteinflüssen im wesentlichen unzugäng-
lich war, ist man jetzt so weit, daß man für einfache
und starke künstlerische Mirkungen wieder emxfänglich
ist, ohne für die intimere Beschaffenheit des Linzelnen
schon Sinn und Geschmack zu haben. U)er erinnert
sich hier nicht des Lrfolges der Anzengruberschen volks-
stücke, welche mit den Ligenschaften des in Reds
stehenden Schausxiels eine unverkennbare Ähnlichkeit
haben? Auch „Heimgefunden" hat einen bis zur
Roheit schlichten dramatischen Bau, seine NArkung streift
in ihrer Linfachheit nahe an Nührseligkeit.** Und
selbst der „pfarrer von Rirchfeld" gehört durchaus
dieser Gattung an, wenn er auch künstlerisch höher
stehen dürfte, als die Arbeit Sudermanns.

Da nun aber anch iu der ll)elt der Runst das
Gesetz von Angebot und Nachfrage wirksam isi, und
die dramatische j)roduktion sich nach den Bedürfnissen
der Ronsumenten richtet, so ist es vorauszusehen, daß
die weitere Lutwickelung unseres dramatischen Schrift-
tumes eine Reihe ähnlicher Dolksstücke, wie ich sie
nach vorzügen und lllängeln eben zu kennzeichnen
versuchte, zu Tage fördern wird. Zn der That wird
man sich auch bei einem aufmerksamen chtudium unsersr
gegenwärtigen dramatischen Literatur der Lrkenntnis
nicht verschließen können, daß die dichterische Rraft der
deutschen Bühnenschriftsteller in der That für ll)erke
höheren Ranges noch nicht reif ist. Ls steht zu er-
warten und zu hoffen, daß sich diese Volksstücke all-
mählich in jeder Hinsicht verfeinern, vertiefen, bereichern
werden, indem sie in beständiger N)echselwirkung mit
dem Fortschritte des künstlerischen verständnisses beim
j)ublikum blsiben. So wären sie im Stande, mil der
Zeit einen sicheren Stil zu gewinnen und eine große,
wahrhaft deutsche Runst heraufzuführen.

Dieser N)eg der Lntwickelung wird, ich weiß es,
Vielen wenig glänzend erscheinen, sie werden sich die
lliorgenröte der künftigen deutschen Runst, der heiß-
ersehnten, farbenxrächtiger, überraschender gedacht haben.
Aber es muß wiederholt werden: nur die mühevollste
Arbeit, die sorgsamste Vorbereitung kann zum Ziele
führen, dessen Lrreichung freilich vielleicht erst ein
sxäteres Geschlecht erlebt. Die Genies der nächsten
Blüte unseres Dramas werden nicht unvermittelt ge-
boren. Das Ausland, — wir müssen es freilich aufs
Lingehendste studiren, müssen es in seiner künstlerischen
Größe voll auf uns wirken lassen: wie unendlich viel
haben wir nicht noch von ihm zu lernen! Aber unsere
Runst werden uns die Zola, die Ibsen und Björnson,
die Tolstoi nicht schaffen; das Beste und Letzte müssen
wir aus dem Ligenen geben. <Ls ist darum ein er-
freuliches Anzeichen, daß dem Drama von Sudermann
eine ausgexrägte örtliche Färbung anhaftet: das ist
ein llierkmal gesunder Lntwickelung. Und zugleich

** Selbst der ausgelassene Schönthan geht in seinem
jüngsten Stücke „Das letzte Wort" diese lVege. Nan hat ihm
deshalb Birch-Pfeifferei vorgeworfen; aber man erkennt wohl
unschwer, daß man hier einen Ausflnß desselben Geistes vor
sich hat. D. v.


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