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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 3.1889-1890

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Heft 24
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8793#0385

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Mcdtung.

IKu ndscbuu.

* Gustklv zu Dutlitz ist, in seinem 70. Lebensjahre, am
5- d. 11k. auf seinenr Gutc Retzin in der Priegnitz gestorben.
Er ward znerst bekannt durch seine 1850 erschienene Märchem
sammlung „Ivas sich der wald erzählt" -- durch hübsche
Dichtungen also, denen aber die Neigungen jener Zeit nach
eilier dem Leben der Gcgemvart abgewandten jZoesie wohl
mehr zu ibrer verbreitung verhalfen, als ibr dichterischer
Ivert. „Die Diä'tung war liebenswürdig", schrieb Leirner
einmal über sie, „- leider erweckte sie eine Reihe von Nach-
abmungen, welche bewiesen, daß dcr Ivald, die Rlumen und
verschtedcnes anderc mit dem Erzäblen kein Ende findcn
können, wenn sie einmal angefangen huben." In den Er-
zäblungen, wie in den zahlreichen Salonlustspieleii, die jdutlitz
tz'äter noch schrieb, bewies er crfolgreich cin ?trcben nach
vornehmcr, feiner Gestaltung, ohne daß wir dürfen dies
doch wohl bekennen seiue Begabung zu Schöxfungen von
wirklich llterarischem Dauerwerte hier hingereicht hätte. Der
Dichter war Geueralintendant zu Rarlsruhe.

* Lrzüblcudc Dlcbluugeu. I. — Ls giebt einen
Ilterarischen INittelstand, so gut wie eincn gesellschaftlichen.
Uud im lctzteren nicht unr, auch im crstcren ist das Durch-
schnittsvermögen innerhalb der verschiedenen Nationen ein
verschiedenes. Lbenso sein qualitatives und quantitatives
verhältnis zu den andern Ulassen, zur Aristokratie, zum volks-
haufen. Untersuchungen in diesem Sinne müßten höchst
interessant sein. Aber cine literarische Nationalökonomie haben
wir in Deutschland noch uicht, wenigsteus keine, die auch nur
annähernd so wissenschaftlich, so statistisch genau arbeitete,
wie ihre zwar ebenfalls noch junge, aber bereits sehr ent-
wickelte, kräftige und einflußreiche Schwester. Die neue
Mssenschaft hätte ihre pikauten Seiten. Line wichtige Frage
für sie wären die Gcschlechtsverhältnisse des bezeichneten
Standes, und da köunte sie leicht zu merkwürdigen Ergebnissen
gelangen. Doch nicht vou unserm literarischen Nkittelstand an
sich soll hier heute die Sprache sein, sondern nur von einem
Lrciguis in demselben oder für denselben, von einem Buche,
das in diesen Areisen mehr als ein anderes von sich reden
gemacht hat. Ich meine: den „passionsroman" aus Vber-
ammergau; „Am Areuz", von 1Vil helmine von^illern,
im verlag der „Union" in Stuttgart erschienen.

Nicht nur machte er von sich reden, er hat anch in
hohem Ulaße das hervorgerufcn, was man persönlichen Rlatsch
nennt. Jeder Sland hat feine Basen, fllr den Mttelstand
sind sie besondcrs charakteristisch. Der lilatsch war oft recht
rücksichtslos gegen die vcrfasserin. Sie mag selber ein wenig
schuld daran sein. Die Aritik hat es nur mit dem Buch zu
thun. Zum Buch aber gehört die Linleitung. Leider ist
diese auch eine sehr wenig erfreuliche Sache. Sie ist eine
„predlgt" im üblen Sinne, ein Sxrachstück, dessen Urheber es
vielmehr aus dcn Tonfall, auf den schönen Alang dcr Ivorte
uud den vollen Ausfall der Satzenden, als auf Sinn und
Logik der Gedanken anzukommeu scheiut. Man meint sogar,
die Frau von klillern wolle das selbcr andeuten — ich wüßte
nicht, was sie sonst sür eincn Grund haben köunte, hinter
jeden Satz ein Ausrufungszeichen zu setzen. Die Sätze sind
sottst schr schön; es bcfindeu sich nur viele darunter, bei denen
sich beim besten Ivillen nichts denken läßt, gar nichts. Lin
Grundgedanke ist vorhanden; er kommt auch ziemlich klar
zum Ausdruck. ksier ist er: Längst wäre die wahre Religion des
Gekreuzigten bis auf die letzte Spur oan der Erde verschwunden,
wenn sie nicht in Dberammergau einen geschützteu kserd ge-
fundcn hätte, auf dem sie fortklimmen konnte, um später
wiedcr zur Flamme aufzulodern, welche just in dem Augen-

blicke, wo die Ivelt auf dem Gipfel der Gottlosigkeit angelangt
war, diese erfassen nnd mit ihrem heiligen Feuer cntzünden
mußte nach dem wunderbaren Ratschlnß des Allerhöchsten,
Dnrch Gberammergau wird Gott sich dic Ivelt, welche ihn
abgesetzt hatte, zurückerobern und zwar im Iahre dcs kseiles
I8I0. Und die Frau von Isillern will ihn hierin mit ihrom
Buch ein wcuig nnterstützen. Das ist liebenswürdig von ihr.
Aber cs giebt cin bckaniitcs Gebct: lherr, schütze mich vor
mciuen Freuiiden usw. INan ist zu dem Gedauken vcrsucht,
dcr liebc Gott könnte, wenn er das khillcrnsche Buch liest,
ironisch so zu sich selber beteu. Die verfasserin hat, nm ihrer
Aufgabc bcsser gcwachsen zu sein, sich von berühmten Airchcn-
lichtern Privatissima in der Thcologie lesen lasscn. Iltan
merkt das ihrcm Bnche au; es enthält viel davon. Der
Tenfel hat gesagt, cr könne uicht hohe Ivorte macheu, die
Frau von ksillerii kann es. Ihre frommeu Aussxrüche sehen
sogar nicht immer angclernt aus; sie mögen manchmal aus
der Seele herausgesprochcn, das Lrgebnis eines inneren Er-
lebnisses sein, manchmal. Und wenn es oft den Anschein
gewinnt, als ob der Prophetin das Predigen wichtiger sei,
als die Sache, die sie xredigt, kann das auf Täuschung be-
ruhen. Aber die Verfasserin nennt ihr Bnch einen Roman,
und einen solchen macht man nicht mit Sätzen der Theologie
und ksomoletik, nicht mit den allerschönsten, auch nicht, wenn
sie noch fo anfrichtig sind. Dic Zeit, wo die Autoren auch
in dichterisch darstellenden Iverken ihre eigenen geistreichen
oder gar gelehrten Anmerknngen höher anschlugen, als die
Gcstalten, dürfte endlich auch für Deutschland vorüber fein.
Fiir die Frau vou ksillern ist sie es uicht. Uud leider hat
sie mit der angedeuteten Ivertschätzung Recht. Aber unrechq
hatte sie dann, einen Roman zu schreiben. Bei so unkünst-
lerischer, dilettantischcr Geistesverfassung kaun man das einfach
uicht, Ihr Buch beweist diesen Satz aufs schlagendste. von
seiner haltlosen ksandlimg, im Grund eincr rechten profanirung
dcr Passionsspiele und einer verherrlichung weiblicher Be-
gehrlichkeit und Lüsternheit, will ich gar nicht reden. Ls
enthält aber auch keine einzige Gestalt, die etwas wert, die
wahr wäre. Die Unwahrheit und vcrschrobeuhaftigkeit dieser
Gestalten — trotz ihrer hohen IVorte — ist so stark, daß
ganz nnkritische Leser sie mcrkeu. Sclbst dem deutscheu
literarischen INittelstaud ist das zu dick. „<Ls ist mcrkwürdig,
diese Leute haben hier alle etwas so Ideales, und alle das
schöne, lange ksaarl" sagt dic kserzogin. Allerdings, es ist
merkwürdig. Sie habeu aber auch Alle „so merkwürdige
Angeu" — so scharfgeschnittene durchgeistige Gesichter — so
künigliche kqäupter — so eherne Stirnen — so bronzene Aöpfe,
alle, und sie habcn sie auf jeder Seite der zwei dickeu Lände.
Goethe nennt sich sclber einen Todfeind von IVorten. Die
Frau von ksillern ist offenbar eine Todfeiudiii von Anschau-
uugeii; mit ihneu giebt sie sich gar nicht ab, sie sind ihr
wahrscheiulich zu materiell. INan mcrkt es an ihren „INenschen".
Eine verzerrtere Romanfigur, als diese gefallene Illaria
INagdalena ist in allen dentschcn Leihbibliotheken zusammen
nicht zu finden. Und das ist nun ein Buch, wo fast auf
jedem Blatte einmal das Ivort „ideal" steht, kcin Ivunder,
wenn ein anständiger INensch jdieses Ivort nicht mehr in dcn
Mund nehmen mag. Auch das Ivort „Logik", „logisch" kommt
wohl viele hunderte INal vor; da können wir ja die Sache
dafür entbehrcn. Dem Ivert des ganzen Iverkes cntspricht
natürlich die Sprache — von dem abscheulichen Französisck
dazwischen gauz abgesehen. Gleich anf der vierten Seite dcs
Romanes schreibt die verfasserin vou der kseldin: Sie weiß
nicht, wie sie's bezeichuen soll, sie wollte fagen, „den INann

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