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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 3.1889-1890

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Heft 20
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Schütze, Hermann: Vom Volksgesang
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8793#0319

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stolz gefühlt. . . Da gab's ja wohl koin sangbares
Lied, zu dem sie sich nicht ihre einfache Begleitstimme
zurechtgelegt hätten. Und wenn sie beisammen waren,
Männlein und Lräulein, da bedurft es nicht erst des
lüsternen Dreitaktes, um das Strenge mit dem Zarten
zu paaren, — waren doch die gemeinsanien schlichten
Lieder Ligentum Aller geworden — vermochte doch
das Allen vertraute Lied ein Band zu schlingen, das
die ungelenke Zunge vielleicht nie anzuknüpfen ver-
mocht hätte."

„Bo lieben Sie also den drei- und vierstinnnigen
Gesang wolsi überhaupt nicht sehr?" fragt ich.

Da leuchteten die alten Augan „Der müßte wohl
ein Barbar sein, dem der wundersame Drei- und
vierklang, durch menschliche Btimmen erzeugt, nicht

als ein Ausstrom göttlicher Runst erschiene! wär ich
wohl noch in meinen alten Tagen in die mir sonst
so fremde ksauptstadt übergesiedelt, wenn nicht der
Uunstgesang unserer Vper mein altes Musikantenherz
mit allen seinen Fasern gefesselt hielte? — llnserm
volke im Großen aber, dem Landvolke wie dem Stadt-
volke im Allgemeinen, ist solcher Gesang für sein
Lühlen ein fremdes, unnatürliches Gewand im Ver-
gleich zur Art und Araft seiner Ausdruekssähigkeit.
Pflegen wir sorglich seine ursprüngliche Gigenart —
pflanzen wir aber nicht fremde, unnatürlich.' Reiser
anf den Baum unseres volkstums, — dann kann
wohl einst unser volksgesang wieder werden, was er
früher war: die natürliche Annstbethätigung eines
naiven volksempfindens!" Dernuinn Scbütze.

undsckau.

Dicktung.

* Zu prag starb 'lkarl Gottkrled von Leit-

tter» ber Nestor der deutschen Dichter, dessen Alter
mit dcm Iahrhnnderte ging, der „österreichische
Uhland", wie ihn verehrer im ksinblick anf seine
Balladen nannten. Zn diesen Balladen und in den
Gedichten überhaupt bethätigte sich am meisten seine
dichterische Begabung, mehr als in den immerhin
oft interessanten Novellen. In den besten rein lyrischen
seincr Gedichte zeigte Leitner dann und wann ei»e
geradezu an ksöldcrlin erinnernde klare Anschauung,
die eine kraftvolle aber gehaltene «Lnipfindnng glürk-
lich auf den Genießenden übertrug. Zluch seine Aprach-
behandlung bewies in ihrer feinfühligen Nuhe, daß
er einer der wenigen unserer antikisirenden Dichter
war, welche der Linfluß des Altertums nicht zum
Bchematismus sührte.

* Am 20. Zuni ist zu Stultgart Zfeodol.' ÜböZVL
gestorben, weiten Rreisen bckannt als chchauspieler und
Negisseur wie andererseits als leidenschastlicher Frei-
manrer, in noch weiteren genannt als Dichter. Lr
gehörte als Lyriker zu jenen Alännern, die Mohlklang
einer sauberen Bprache und, ich möchte sagen, bvohl-
klang der Gesinnung als crste Lrfordernisse der Dicht-
kunst pflegten — Anschaulichkeit, Lharakteristik, nr-
sprüngliches, ganz und gar unbefangenes chich-Geben
galten ihm kaum in gleichem Maße als das, was
die Dichtung zu erstreben habe. Löwes lyrische Be-
gabung wird schwerlich noch von vielen als cine
starke bezeichnct werden, rvenn der Gedanke an den
Tod des Nlannes ihr Lmpfinden nicht mehr beein-
flußt. Lsatte er sich große Stosfe gewählt, so war er
mehr ein in schöncn Lätzen über seinen Gegenstand
überzeugt sprechender rveltlicher jdrediger, als ein
innerlich schauender Beher. Bei der dichterischen Be-
handlung klciner Lrlebnisse jedoch, die anspruchslose
Darstellung erforderten, verfügte er so glücklich über
den Ausdruck erwärmenden Behagens und dann und
wann sogar des reinen und seinen Lsumors, daß er
in der That nicht den bvillen oder Gedanken, sondern
die j?hantasie des Lesers in erster Neihe anregte, daß
er somit wahre Gestaltung erzeugte und also als
Dichter wirkte.

» Ldurrrd Wcllamvs „Rückl'lick aus dem Jahre 2000
auf 188?" liegt iiuii auch in eiucr gutcn deutschen Übersetzung
vor, die Georg von Gizpcki nach dem soi. Tausend des

amerikaiiischcn Urwerks vorgciioiinueii hat (Leipzig, Reclam).
Noch ist das Buch iu Dcntschlaud uur sehr weuig bekaunt —
wirv vcrhehlen uusere Übcrzeuguug uicht, daß cs biuucn
Rurzciu auch bei uus nicht uur zu deu iiieistgeleseuen uud
lueistbesprocheueu gehöreu wird, sondern daß es allcr lvahr-
schciulichkeit uach anch bernfen ist, die Gcstaltnng des poli-
tischcu uud sozialcu Glaubeusbekeuutiiisses uusercr Zeitgeuossen
kläreud zu beeiuflusscu. So gewiß cs iiberhaupt Pflicht ist,
die Gedauken des Gcgncrs nud das, was er erstrebt, keuuou
zu lerueu, niu es widerlegeu zu köuuen, so sichcr cs iiu be-
soudereu ist, daß gcrade vou jeucn vorstelliiugeu vom „Zu-
kuuftsstaat", dcn dic Sozialistcu erstrebeu, bei dcr großcu
Nkehrzahl uuserer Gebildcteu uur gauz verschwoiuiueiic Be-
griffc hcrrscheu, so uiizweifelhaft schließlich das Auwachseu
der Sozialdciuokratie iu Deutschlaud ist: so gcwiß solltcu auch
Alle Bellauiys „Rückblick" lcseu, dcucu es um die büudigste
uud auschaulichste Liuführuug iujeues Gcdaukeureich dcsSozialis-
uius zn thuu ist, das dciu eiueu als kjöllc, deiu auderu als Traniu-
laud, dem dritteu - wie Bellaiuy selber — als uuabweudbar
koinmeudcs Zukuuftsparadies erscheiut. Tiu Sohu des neuu-
zchuteu Iahrhuuderts erwacht aus laugein Starrkraiupse aiu
Eude des zwauzigsteu — das ist die phantastischo Gruudlagc
dcr Utopie, die iin Übrigeu ans realistische Durchbildnug Au-
spruch uiacht. Der Trwachte fiudet sich iu eiuer Zcit wicdcr,
iu dcr der Gedauke eiucr uatioualeu Sozialaristokratie bei
alleu Anlturvölkcru zur Durchführuug gelaugt ist: ciuer
Staateubildnug, die auf dciu wirtschaftlichcu Sozialisiuus
uatioualcr Tiuhcitcu beruht, bei dcucu veriuöge höchst siuu-
reichcr Liurichtnngeu — iiiau köuutc sie ciue Art vou küust-
licher Zuchtwahl ncuncu — übcrall die Tüchtigsteu deu größteu
Liufluß gewinueu. Liner der Ljaupteiuwürfe, die gegeu den
Sozialisiuus vou je erhobeu siud: daß er die sreie Lutivickluug
der Persöulichkeit hiudere, hättc also iu Bellaiuys Zukuufts-
Aiuerika kciueu Siuu — iu ihiu fäudeu vielmehr die Rräfte
der Persönlichkeit eiue Gelegenheit zur Bethätiguug, wie sie
solche uoch uirgeuds aus der lvelt gefuudcn habcn. Der lang-
schlasoude Ljeld des Buches fiudet denu auch eiucu Zustaud
wisseuschaftlichcr, küusllerischer, sittlichcr nud religiöser (Bellainy
ist eiu religiöscr Akanu) Blüte vor, wie ihu die Welt uie
geahut hat. Die Gesprächc des Wiedercrstaudcueu »iit sciueiu
wirte bilden unu dcu eigeutlichen Iuhalt des Buchs, das
uur der xopulären Darstelluug wegeu die Foriu Scr Roinau-
crzählung entlehnt hat. Die Ausführuugen Bellaiuys haben
schou Augriffe vou allen Seitcn crfahreu, natürlich anch vou
deu Sozialdeiuokrateu, — wrr uur eiuigerinaßeu aus deu

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