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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 3.1889-1890

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Heft 23
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Keller und die Rezensenten
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https://doi.org/10.11588/diglit.8793#0365

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über alle

„ Lrscbetnt

23. Anfang und in der Mitte

Derausgeber:

zferdinand Ltvenarins.

Kestellpreis:

vierteljäbrllch S-/2 Mark. Z. Aitl)rrs.

Isxeller ulld die Nezellselllell

KWÄWLottfried Aeller war gestorben, u»d die
deutsche Zeituugskritik widmete ihin ihre
BW^ArVlNachruse. Ls war belehrend, ihr zuzu-
M^^N.Hören, denn hier hatte sie einen poeten vor
sich, der poet war ganz und gar, hier konnte sie
also zeigen, was so ungefähr sie sich unter poesie
vorstellte. <Ls kam manches Gute dabei zu Tage,
manches wunderliche und manches, das schlimmer
war, als wunderliches. wir wollen nicht vom „Ber-
liucr Tageblatt" reden, dessen Llleraturprophet durch
sein wort, daß Gottfried Reller „Lins gefehlt hat,
allezeit: Phantasie", sich den Rranz erwarb, den die
dankbare Mitwelt großen Romoeden flicht. Wir
wollen anch nicht reden von anderen Glanzproben
der prompt liefernden Biaschiuenkritik. Wir wollen
von ernsthafteren Leuten sprechen und von dem,
worauf ihre Morte schließen lassen.

Lsören wir als eineu Bertreter jener Literatur-
kritik, die an die Tüchtigkeit ihrer Arbeit Ansprüche
stellt und an die man deshalb auch Ansprüche stellen
kann, eiiien von denen unter den „Zungen", die ihre
chätze nicht nur nach Begeisterung oder lLntrüstung,
sondern auch nach Gedanken zu schreiben pflegen,
Iulius tzart. Lr hat in der „Täglichen Rundschau"
eine längere Arbeit über Reller veröffentlicht, die für
unsern Zweck sehr lehrreich ist.

„Nur der," schreibt tzart, „welcher von der Runst
mehr noch will, als Farben- und Lmpfindungsrausch,
findet kein volles Genügen an dem phantasielustigen
Fabuliren des Züricher Meistsrs." Merkwürdig, und
ich z. B., ich habe immer volles Genügen an Rellers
kVerken gefunden weil sie mir so nnendlich viel mehr
zu bieten schienen, „als Farben- und Lmpfindungs-
rausch" nicht nur, sondern auch als abstrakte Gedanken-
knochen: nach jeder Seite reich ausströmendes, an
Gedanken-, Lmpfindnngs-, Lrfahrungs- und Beobacht-

ungsgehalt schier nnerschöpfliches Leben nämlich.
N)ir — es handelt sich ja wahrlich uicht um

mich allein - konnten stundenlang den Problemen
nachsinnen, die aus Rellerschen Gestalten vor uns
ausstiegen, wir glaubten zu fühlen, wie unser chein

wie von »euem Lebenssafte durchströmt wurde aus

drr Fülle dieses Gehalts — bsart belehrt uns, daß

wir nur „köstlichste Naschwaare" erhielten, „aber
nicht das nährendste und gesundeste Brot, Nosen, die
uns schmücken, nicht kornschwere Aehren, die für uns
Leben bedeuten." Denn Reller war ein „Roman-
tiker", kein wirklichkeitsdichter bester Art, wie wir
doch glaubten. Diese Rellerschen sogeiiannten Men-
schen, die so zart und herrlich sind, sie sind „Ab-
straktionen", diese Rinder z. B. „von all dem,
was wir uns unter kindlicher Neinheit und Natürlich-
keit vorstellen." Und wir Andern, die wir doch auch
Rinder kennen, bewunderten es an Reller, daß er so
rückhaltlos auch Schattenseiten des Zugendlebens
darstelle! Diese Liebenden, „Nomeo und Zulia aus dem
Dorfe" beispielsweise, sie sind für ksart „Abflraktionen",
„Gebilde unserer Träume". Und nns waren sie so
körperhaft erschienen, weil sie nicht hell in hell, son-
dern hell in dunkel vor uns traten, 'leiblich, warm
durchflossen von rotem Blut. „Die Todesfurcht, die
unser Aller Lrbteil ist, sie sind daoon frei, und der
Tod hat für sie nicht die Stachel, die er für uns be-
sitzt." Za, das schien uns ja eben köstlich, wie Reller
hier das Bchwinden der Todesfurcht überzeugend
seelenkundig vorgeführt hatte, das den gemeinsamen
freiwilligen Tod zweier Liebender vorbereitet, der doch
in der wirklichkeit nicht eben gar selteu ist. „Zn
unsern Liebesempfindungen steckt wohl etwas weniger
Aetherisches und mehr Zrtzischkeit." N)ie haben wir
uns getäuscht, als es uns schwül wurde vor der Glut
dieser irdischen Sinnlichkeit in „Nomeo und Zulia"!


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