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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 3.1889-1890

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Heft 10
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Dresdner, Albert: Die Wandlung des dramatischen Geschmacks
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https://doi.org/10.11588/diglit.8793#0158

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heran, und ein geregelter Gang der Dinge war bei
dem Mangel an Lrfahruiig noch unmöglich. Schneller
immerhin paßte man sich dem vergnügungsleben als
der Arbeit der weltstadt an, indem man vielleicht
mit der neuen Art das Leben zu nehmen auch etwas
kokettirte. So begann zumal seit der Gründerzeit ein
toller Nausch von Vergnügungen, die durchaus den
Stempel der Lrivolität trugen. Auf der Bühne fand
dieser Geist seinen harmlosesten Ausdruck in dem
Ballette, einen bedenklicheren in der schamlosen Schau-
stellung zweifelhafter Neize, wie er in gewissen possen
und Gxeretten vielfach üblich wurde, den geschicktesten
und daher gefährlichsten in der systematischen ver-
giftung aller sittlichen Begriffe, die von den französischen
Grzeugnissen ausging. Gs war die vollendete Ge-
dankenlosigkeit und die sittliche Leichtfertigkeit, welche
die Mperette, das Nesidenztheater und allenfalls den
Augenkitzel des Ausstattungsstückes die erste Rolle
spielen ließen.

Indeß, die weltstädtischs Gntwickelung Berlins kam
allmählich ins Gleichgewicht, und überall, aus geistigem,
wirtschaftlichem, gesellschaftlichem Gebiete trat die ernste
Arbeit, die ohnehin schon dem Norddeutschen nahe
liegt, in den Vordergrund. Zn das Reich der Aunst,
im Besonderen in das Theater konnte sie um so leichter
ihren Linzug halten, als ein Lkel an dem im Über
maße Genossenen naturnotwendig eintrat. Man hatte
sich bisher im Theater nur unterhalten wollen, wie
man sich etwa im Tingel-Tangel auch unterhielt, und
die Bühne ihrerseits nahm auf die Befriedigung anderer
Bedürfnisse kaum Bedacht; jetzt begann auf beiden
Seiten ein langsamer Umschwung. Und es ist sehr
interessant, seine Äußerungen zu beobachten.

Ulan erinnert sich noch der Zweifel, welche bei
der Gründung des Deutschen Theaters in Bezug auf
seine Zukunft laut wurden. Line Bühne mit vor-
wiegend ernstem, ja klassischem Spielxlane! bsatte
man sick^ doch nahezu daran gewöhnt, diese Alassiker,
welche durch jede Dorstellung im Schauspielhause, die
IVahrhsit zu sagen, von Neuem kompromittirt wurden,
in die Numxelkammer der Geschichte zu werfen. Aber
das Unerwartete geschah: Larlos' Feuerworte, Nathans
freundliche weisheit, Göhens gut deutsche Biederkeit
erstanden zu neuem Leben; jede neue Linstudirung
wirkte fast wie ein neues Stück; man erlebte es,
daß bei den reicheren Ulassen, die vornehmlich das
publikum dieses Theaters stellten, die alten Iserren
in die Ulode kamen. Zn die erstarrte IVelt des
Schauspielhauses wehte ein scharfer wind und brachte
neues Leben in Bewegung. Zwei neue Bühnen ent-
standen, deren Absichten man jedenfalls als künstlerische
bezeichnen muß, mögen die Utängel der Ausführung
noch so groß und augenfällig sein, und sie hielten
sich allen Zweiflern zum Trotze. Anzengrubers männ-
liche und starke Bauernstücke wurden eingeführt und
fanden, obwohl sie zum Teil in Grundlagen wurzeln,
die der norddeutschen Stammesart wenig vertraut
sind, unerwartet freundliche Aufnahme.

Zugleich machte die Gperette vollständigen Ban-
kerott. Der versuch, sie in zwei Theatern zu pflegen,
scheiterte. Zhre alte kjeimstätte aber hatte in den
letzten Zahren eigentlich nur einen großen Lrfolg,
und ihn verdankte man einer durchaus feinen Arbeit
wahrer Runst, dem „Mikado". Die Vperette selbst

wurde die veränderten Zeichen der Zeit gewahr:
das Schlagwort kam auf, sie müsse sich in eine deutsche
volksoper verwandeln. Und die alte posse des
Zentraltheaters sank in so völlige Mißachtung, daß
es in gebildeteren Ureisen geradezu schicklich wurde,
geringschätzig von ihr zu sprechen. Selbst das Nesidenz-
theater folgt ersichtlich dem gleichen Zuge, wenn es
eben jetzt zu ernsten französischen werken älteren Ur-
sprungs, wie z. B. zur „Armen Löwin", greift.

Uut dem Hervorgehobenen trifft es.xiun von der
anderen Leite zusammen, daß der Zustand des deutschen
Lchrifttums sich mittlerweile durchaus verändert hat.
j?atriotische Träumer gaben sich wohl der bsoffnung
hin, der Einigungskampf von 1870 werde uns auch
gleich eine große volkstümliche Uunst schenken. Sie
dachten vielleicht an den Befreiungskrieg und seine
j)oesie; aber sie vergaßen, daß diese j)oesie mit den
Zuständen, welche zu dem Uriege führten, von Anfang
an gemeinsam die allmähliche Lntwickelung durch-
gemacht hatte. Die Lreignisse von 1870 aber waren
etwas recht Unerwartetes. Des Reiches Linheit hatte
man seit lange ersehnt und erstrebt, aber gerade in
dieser Lorm hatten sie sich doch wohl nur die wenigsten
gedacht*). Nur langsam, aber mit unwiderstehlicher
Sicherheit brach sich der nationale Gedanke in Ge-
stalt einer lebhaften Begeisterung für dies neue Neich
Bahn, und in diesem Augenblicke bereits dürfen wir
mit srohem Stolze es aussprechen, daß er durchge-
drungen ist, wenn nun hiermit ein neuer Aufschwung
unseres Schrifttums zeitlich zusammenfällt, so wird es
erlaubt sein, einen ursächlichen Zusammenhang zwischen
diesen beiden Thatsachen anzunehmen. Denn noch
nie hat ein Volk eine große nationale Runst erzeugt,
ohne daß ihm sein Volkstum in dieser oder jener
Lorm zu bestimmtem Bewußtsein gekommen wäre.
So wenig man es vielleicht unserer Literatur äußerlich
ansieht, ihr neues Leben wurzelt doch aufs Tiefste in
dem nationalen Gedanken.

Und ein neues Leben ist wirklich über sie gekommen.
Lin Zahrzehnt lang hat man müßig daraus gewartet,
daß die goldne künstlerische Lrucht der militärischen
und politischen Siege uns reis in den Schoß falle;
endlich ist man zu der Lrkenntnis gekommen, daß auch
die Uunst nur durch die strengste, hingebsnde Arbeit
geschaffen werden kann, und man ist daran gegangen,
sie in der Theorie wie in der praxis neu zu gründen,
einen wahrhaft deutschen chtil wenn nicht zu bilden,
so doch vorzubereiten. Der preußische Geist, das will
sagen: der eigentliche Geist des neuen Deutschlands,
hat namhaste literarische vertreter erzeugt. Line junge
literarische jDartei verkündet und verteidigt ihre An-
schauungen jedensalls mit ehrlichem Liser und weckt
starke Bewegung. Line „Lreie Bühne" entsteht und
veranlaßt künstlerische Lrörterungen von einer bei uns
seit lange unerhörten Lseftigkeit. Allenthalben steigt
das Znteresse für Lragen der Runst, neue Runstzeit-
schriften entstehen. Die im vorsprunge befindlichen
Literaturen zumal der Lranzosen, Nussen, Skandinavier
werden eifrig studirt, bewundert, beneidet. Zbsen
kommt auf die Bühne und unter lebhaften Ilämpfen

*) Lür diese Thatsache ist auch das bekaimte Zeugnis
G. Lreytags in seiner Broschüre über Raiser Lriedrich, von
wert. D. v.

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