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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 3.1889-1890

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Heft 13
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Das Vorlesen von Dichtungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.8793#0205

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13. Stück.

Lrscbetnt

am Zlnfang und in der Mitte

Derausgeber:

zferdüumd Avenarius.

Kesrellpreis:

vierteljährlich 21/2 Mark.

3. Zabrg.

Das Dorlesen von DLektungen

eit langer Zeit hatte ich keine öffentliche vc>r-
V/^^M lesung einer Dichtung gehört. Da — nun
ein paar Zahre her — kündigten die
^A^^E^Ieitungen das Nahen eines hochberühmten
„Dortragsmcisters" an, eines Nlannes, dessen Leistungen
in wahrem Überschwange der Begeisterung gepriesen
werden. Lr hatte die tViedergabe des Schillerschen
„Demetrius"-Fragments angezeigt — nun saß ich da,
ganz vorbereitet, mich ins Land der Dichtung entführen
zu lassen. Der vortragsmeister begann zu sprechen

— Ronsonanten am wortanfang klangen, als
wären sie unzusrieden darüber, daß ihnen noch andere
folgten, so schossen oder rollten sie für sich allein her-
aus, „G—roßmächtiger Rönig" , „rrr—uhmreicher
Sigismund", Lndsilben pflanzten sich dafür hin,
als wollten sie sagen: halt, wir sind die kfauptsache

— „bedenkenn", „Niehrheitt". Um mich herum be-
wunderte man die Deutlichkeit der Aussprache. Ia,
deutlich war sie schon — aber wie sollte ich vor mir
im Geiste die Schillerschen Gestalten so sprecheu hören?
Ich vernahni statt ihrer den vortragskünstler Ao und
So — die einzige Illusion, zu der ich mich aufschwingen
konnte, war die: wir Zuhörer sind alle Taubstumme,
und dcr Nlann dort will uns lehren, wie man zur
khervorbringung artikulirter Laute die Sprechorgane
zu stellen hat. Mttlerweile wurde es auf dem Rra-
kauer Neichstag lebeudiger. Der kserr iin Frack dort
vorn nahm bald eine begeisterte, bald eine entrüstete,
bald eine beruhigende, bald eins aufgeregte Nliene
an, nach rechts und links flogen, bald sanft, bald
zornig, seine Blicke, und jetzt bekam er's auch in die
Arme — sein Gberkörper führte einen Tanz auf,
während sein Unterkärper solid auf dem chtuhle saß.
„Welch dramatisches Leben!", flüsterte man hinter mir.
Nichtig, das sollte sa die Trregung der Geister uud
Leiber auf dem pölnischen Neichstage ausdrücken!

Als ich die Dichtung im Buche las: aus den stillen
schwarzen Lettern war sie vor mir heraufgestiegen,
diese wilde Lrregung, daß mir das Lserz klopfte. Ge-
rade durch seine Nliene» und Gebärden sorgte sa
aber der Lserr im Frack dafür, daß man fortwährend
anf ihu selber ausmerkte, daß die phantasie von ihrer
luftigen Neise stets zurückgerufen wurde, weil seine
eigene aufgeregte Trscheiuung sich fortwährend grob
vor die Augen drängte, daß man also nicht Demetrius
oder Säpieha vor sich sah, sondern eben den Lserrn
im Lrack. kVas der phantasie ihre Arbeit erleichtern
sollte, zerstörte immer wieder von Neuem ihre Arbeit
mit der Gewißheit, mit welcher ein körperlicher Ainnes-
eindruck stärker ist, als ein Grinnerungs- oder phan-
tasiebild. Trotzdem war die Mehrheit des publikums
augeuscheinlich zufrieden. „!Vas ist die Mehrheit?
Mehrheit ist der Unsinn," sagte allerdings der Herr
Vortragende soeben.

Zch fand nach dem Schluß der Vorlesuug oder
Vorstellung wenigstens einen Freund, dem es ergangen
war, wie mir, und drückte ihm in der Überzeugung
die kfand: die gedankenloss Bewunderung des hohlen
Virtuosentums ist bei öffeutlichen vorlesungen zum
mindesten so groß, wie in Konzerten — zum mindesten
so groß.

IVir haben auch hier eiu Gebiet, das, wie z. B.
der Runsttanz, die schöue Garteukunst, der Zirkus mit
seinen Darbietnngen, in uuseren Zeitungen nicht ernst-
haft besprochen wird, und dem gegenüber daher jener
Streit der Meinungeu im publikum überhaupt uicht
sich bildet, der einer der Lrzeuger guter Lrkenntnisse
und des Fortschritts ist. prüfen wir einmal kurz, was
die vorlesung einer Dichtung — vorerst: einer drä-
matischen Dichtung — bieten kann und wa^ nicht.

Zunächst stellen wir fest, daß das Mittel, durch
welches sie künstlerisch wirkt, nur das wort ist.


Der Nachdruck von längeren wie kürzeren Beitrügen des „Runslwarts" ist vom verlage nur unter deutlicher PueHenangabs gestattet.
 
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