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Kunstwart und Kulturwart — 33,3.1920

DOI issue:
Heft 14 (2. Aprilheft 1920)
DOI article:
Keyserling, Hermann Graf: Erscheinungswelt und Geistesmacht
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https://doi.org/10.11588/diglit.14991#0078

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Vorstellungen als solche, die Tatsachen, das Spiegelbild, nicht auf das,
was dieses bewirkt, zn legen. Und da die Lrscheinung. als solche keine
schöpferische Macht enthält, so bedentet dies, daß es ihm nahe liegt, auf
das Schöpferische in sich zu verzichten. In der Tat ist dem so: daher die
typische deutsche Gelehrtenhaftigkeit. Weiter aber wirkt eine Philosophie,
die den Erscheinungscharakter der Welt betont, auf das gleiche Verhältnis
steigernd hin. Hierher rührt es in hohem Grade, daß das deutsche Volk
im ganzen, im Lanfe des letzten Iahrhunderts, bei sonst gleich gebliebener
Naturanlage, immer unschöpferischer, immer tatsachenbefangener und im
tiefsten geistigen Sinn imnier ohnmächtiger geworden ist. Immer mehr
ist es deutsche Art geworden, mit der gegebenen Erscheinnngswelt als
letzter Instanz zn rechnen, innerhalb dieser zu induzieren, zu deduzieren,
zu organisieren, aber nie unmittelbar Neues, Originales hervorzubringen,
so daß schließlich der Zusammenhang mit dem tiefsten schöpferischen Grund
beim dentschen Volk von heute in einem seit Menschheitsgedenken nnerhörten
Grad gelockert erscheint. Lben deshalb sind äußere Mächte in Deutsch-
land zuletzt allmächtig geworden. Daß es heute der Lntente versklavt ist,
nachdem es sich vorher freiwillig in das Netzwerk von Wilsons vierzehn
Punkten verstrickt hatte, ist nur der äußerlich äußerste Ausdruck eiues schou
lange herrscheuden Verhältnisses: s e l b st b e h e r r s ch t im tiefsten meta-
physischeu Siuue waren die Deutscheu schon lange nicht mehr, weil sie an
ein schöpferisches Selbst.in sich schou lauge nicht mehr glaubteu. Immer
waren es andere, äußere Mächte, zu ihrem wahren innerlicheu Wesen
meist ohne jede Beziehung, die regierten. So herrschte eine rein äußer-
liche Naturwissenschaft oder Iurisprudenz, eine Philosophie, die vom Innen-
leben nichts wußte oder dieses im Spiegelbild der Vorstellungen so fest-
hielt, daß es eben dadurch dauernd herausgestellt erschien; so herrschte die
abstrakte Armeeorganisation, ein mechanischer Beamtenapparat, dem selbst
die handgreiflichsten lebendigen Kräfte dieser Zeit entgingen. Wie danu
der eine oder andere Apparat aus äußeren Gründen zerfiel, da erwies es
sich, daß es überhaupt keinen inneren tzalt gab. Die Zersetzung be-
stimmter religiöser dder ethischer Begriffe — an sich ein Fortschritts-
momeut — führte zur Immoralität und Irrealität schlechthin, der Nieder-
bruch des äußeren Staats- und Armeeapparates zum Verlust jeder tzal-
tung, beinahe der Menschenwürde, zur volleudeten inneren Anarchie. Die
ekelerregende Demoralisation, die heute auf allen Gebieten herrscht, be-
deutet aber genau das gleiche, wie schon lange die deutsche Anoriginalität
und Irrealität im Geistesleben: denn auch auf geistigem Gebiet steht das
Erkannte, Lrfundene, an sich noch so Tiefsinnige typischerweise außer Zu-
sammenhang mit der lebendigen Wirklichkeit und kann diese daher
nicht beeinflussen. Die Demoralisation beweist, daß das deutsche
Leben schon lange rein äußerlich zusammeugehalten war. Dieses aber
konnte nur geschehen — und dies ist das Bedeutsame —, weil es iu
der Macht des Geistes liegt, den Nachdruck auf diese oder jene Seite der
Wirklichkeit zu legen, weil er also wesentlich frei ist und der Deutsche seine
Freiheit dazu benutzt hat, sich selbst seines höchsten Gutes zu entäußeru.
Auch auf geistig seelischem Gebiete ist Selbstmord, so unsinnig er scheint,
nicht allein eine Möglichkeit, sondern für viele eine Wünschbarkeit. Wenn
der deutsche Geist immer nur in der Welt der Erscheinungen als solcher
weilt, dann wird er unwirklich und spiegelhaft wie sie. Das Wesenhafte
wird ihm zuletzt ganz unzugänglich, sein Leben wird mechanisch wie das

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