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Kunstwart und Kulturwart — 33,3.1920

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Heft 19 (Juliheft 1920)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14991#0352

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Vom tzeute fürs Morgen

Sein und Sollen

ie Verhandlung zwischen völkischem
und sozialistischem Flügel der frei-
deutschen Iugend, von der wir diesmal
im Anschluß an den Bericht der Mo-
natschrift „Freideutsche Iugend" spre-
chen, ging aus von einem zunächst un-
überwindlich scheiuenden Gegensatz.
Von der deutsch-völkischen Seite wurde
behauptet, es gebe von allem Ursprung
her gegensätzliche Menschenthpen, die
jede ihre entsprechende politische Auf-
fassung hätten; die sollten sie ohne
Rücksicht auf angebliche objektive Ge-
bote durchhalten. Also beispielsweise
ein kricgerischer befchlender Thp und
andererseits ein auf fricdlichen Aus-
gleich gerichteter.

Dieser Anschauung wurde von der
ethisch-sozialistischen Seite entgegen-
gehalten, es komme nicht auf ein psy-
chologisch-zufälliges Sein, sondern auf
ein ethisch notwendiges Sollen an.
Oder wie der fromme Kommunist
Walter Koch es ausdrückte: jene typi-
schen Gegensätzlichkeiten „beständen nur
für die rein kreatürliche Betrachtung;
die Aufgabe des Menschen als eincs
zur Religion befähigten Wesens sei
gerade die Erhebung über solchen
Widerspruch, sciue Aberwindung durch
Liebe".

Sollte nicht vielleicht die ganze
Idee vom Sein und Sollen in dieser
Fassung eine ungenügende sein? Ein
Sein, das aus sich ein Sollen heraus»
setzt, welches sich auf die Lrhaltung
und Entfaltung des Seins beschränkt?
Gibt es cin solches Sein? Ist nicht
alles wertvolle Sein zutiefst selber
ein Sollen? Ein Sollen, das seiner-
seits aus sich ein Sein heraussetzt als
eiuen Niederschlag seiner lebendigen
schöpferischen Bcwegung? Ich glaub«,
wcr sich aufrichtig prüft, fiudet in sich
niemals cin Sein vor, das nicht
Sollen oder Rückstand und Hemmung
des Sollens ist.

Diese Erkenntnis scheint mir etwas
ganz anderes als eine theoretische
Schullösung, nämlich eine der frucht-
barsten praktischen L e b e n s erkennt-
nisse überhaupt. Es ist dcshalb, daß

das ganze Gerede vom „Sichausleben"
so tödlich unfruchtbar ist. Sich auS-
leben — ja wohl: Sobald man weiß,
daß das „Sich" oder das Selbst, das
man ausleben will, eben nicht der
Zufalls- oder Anglückshaufe von
Süchten und Gierden ist, die lange
Vorgeschlechter in uns als ihrem letz-
ten Abfallprodukt aufgchäuft haben,
sondcrn der Funke, der in jedem
Menschen neu durch diese verworrene
Ansammlung hindurchbrenncn und sie
in eine große Glut umwandeln will.
Dieser Funke aber ist es, der sich
jenen Gierden und Süchten alS ein
hartes Soll entgegenstellt, währcnd er
von dem Menschen, der die große
Lebenserkenntnis gemacht hat, die eine
Wiedergeburt bedcutet, als ein frohes,
helles cntschlossenes erlöstes „Ich will"
aus tiefstcr Seele heraus empfuuden
wird. Die vorhin erwähnte Formu-
lierung Kochs würde, wenn ich sic
recht verstehe, ein Gleiches besageu.

BonuS

Zu den Wurzeln!

enn man von dcn Quellen oder
Wurzeln der Dinge spricht, so
pflegt man historisch zurückliegende Zu-
stände darnnter zu verstehcn, meist gar
nur Berichte über sie oder künstlerische
Urkunden für ihre Art und Lebens-
anschauung. Selbst Faust holt von den
„Müttern" frühere Gestaltungen der
Kräfte herauf, um die es sich ihm
handelt.

Aber die Dinge haben ihre Wurzeln
zunächst in gegenwärtigen Zuständen,
zu denen die Anschauungen der alten
Zeit geführt haben.

Die Wirkung alles Lebens, seit es
ein geistiges Leben gibt, ist immer cine
doppelte: Ein natürliches Weiterwir-
ken alles Geschehens im sich fortzeu-
genden Leben selbst und ein geistiges
Weiterwirken in Erinnerung und
Phantasie.

Beides schreitet in steter Wechsel-
wirkung aufeinander vor. Es gibt gar
keinen stärkeren Hebel, keinen stärkeren
Anreger auf frisches Geschehen als dic
Erinnerung an früheres tüchtiges Ge-

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