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Kunstwart und Kulturwart — 33,3.1920

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Heft 18 (2. Juniheft 1920)
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Avenarius, Ferdinand: Jugend-Politisierung
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Bonus, Arthur: Mehr Güter oder höhere Güter?
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https://doi.org/10.11588/diglit.14991#0275

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Stückchen Land überhaupt nicht, bei denen es besser geworden ist, und bei
jenen zehn vergessen wir noch, wer und was am Herunterkommen die
eigentliche Schuld trägt. Aber am schwersten erträglich von allem jetzt
ist doch wohl die zügellose Vollherrschaft der Massenpsyche im Wahlkampf.
Sind es nur wenige unter uns, denen dabei der Gedanke kommt: rechts
oder links oder mitten darin, das Parteiprogramm wird uns nebensächlich,
denn es scheint nachgerade, als setzte es überall eine Kirchenfassade vor
ein Geschäftshaus. Wer am sachlichsten arbeiten will, danach fragen
wir. Arü> da die Sache nur beurteilen kann, wer klaren Kopfes ist,
so, scheint uns, muß der allerwichtigste Kampf zwar auch zwischen den
Parteien, aber mindestens ebenso sehr innerhalb der Parteien ausgefochten
werden. Und da nicht bloß während der Wahlzeiten, sondern stets. Dieser
allerwichtigste Kampf aber ist der um das Hochkommen des klaren Einzel--
denkens gegen das Nebeldenken, gegen das Massendenken einer durch
Unterernährung und Leid jeder Art erkrankten Gesellschast. A

Mehr Güter oder höhere Güter?

^^ch lese: „Sozialismus ist und will in erster Linie ein wissenschaftlich
^terkanntes Wirtschaftssystem sein und muß ausschließlich darnach be--
^Furteilt werden, ob die in ihm enthaltene Erkenntnis vom wirtschaftlichen
Prozeß derjenigen, die der individualistischen Lehre zugrunde liegt, über--
legen ist." Alle wissenschaftliche Nationalökonomie in Deutschland, vor
allem aber auch außerhalb Deutschlands sehe den Beweis als geliefert
an, daß die individualistische Wirtschaftsordnung die einzig richtige sei.

Mir scheint: Hiergegen ist viel zu sagen. Sozialismus ist durchaus
nicht in erster Linie ein Wirtschaftssystem. Er ist zuerst eine Gesinuung;
darnach ein System von Forderungen, die aus dieser Gesinnung fließen.
Wir werden das im folgenden bestätigt sehen. Auch der Kapitalismus war
einst eine Gesinnung und bildete aus ihr heraus ein System, das dann
allmählich sich durchsetzte.

Dann aber ist nun auch der aufgestellte Maßstab oberflächlich, so wisseu--
schaftlich wohlerwogen er sich anhört. Eine Wissenschaft hat es als
solche mit gegebenen Dingen zu tun oder mit Folgerungen aus gegebenen
Dingen. Als Wissenschaft also wird eine Volkswirtschaftlehre, die das
Gegebene verteidigt, stets die stärkere fein und sein müssen gegenüber einer
Verkündigung, welche aus einer neuen Gesinnung aufsteigend, die Zukunft
aus den Schlünden des Nochnichtseienden heraufbeschwören will und deshalb
mit einer ganzen Reihe von Nnbekannten zu rechnen hat. Politik — auch
innere — ist alles andere eher als Anwendung wissenschastlicher Theorie.
Sie ist, wo sie gesund ist, Leben aus Not, Zweifel, Hoffnung und
Glauben. Nnd die reden laut und lassen sich von keiner angeblich besser
wissenden Theorie den Mund verbinden.

Man stelle sich einmal vor, unsre Nationalökonomie wäre imstande,
nachzuweisen, und zwar lückenlos, daß die Sklaverei noch besser wirt--
schafte, als unser bisheriges System. Würden wir deshalb für die Skladerei
eintreten? Nnd warum nicht?

Weil uns bei dieser Gelegenheit ohne weiteres verständlich werden
würde, wie wenig es sich bei der Güte eines Wirtschaftssystems darum
handelt, ob es im wissenschaftlich nachweisbaren Sinn „besser wirtschaftet"
als ein anderes. Was kann jene Wissenschaft im Höchstfall beweisen?

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