Vom Zeute fürs Morgen
Die größte und die kleinste Welt
s gibt zwei Pole des Erlebens.
Zwischen ihnen liegt die Fülle
menschlicher Halbheiten und Kompro-
misse. Nur bei ganz großen Menschen
kann es vorkommen, daß sie die Fülle
der Gesichte, die ein reiches, bewegtes
Außenleben ihnen schenkt, aufneh-
men uud zugleich eine ganz stille, eiu -
same Stunde erleben könuen.
Die Zeit vor dem Krieg hat man-
chem ein reiches Außenleben er-
möglicht, davon zeugt unsre exotische
Roman- und Bühnenlitcratur und das
Tagcbuch eines Hermanu Keyserling,
davon zcugt unsre Neise-, Besichti-
gungs-, Verguügungs- und Abeuteuer-
lust, die nur in „Dimensionen" ein
Genügen fand — und selbst da nicht.
Denn, was den Großen kosmische Trun-
kenheit schenkte, vou Liliencron bis zu
dcn Aktivisten, von Alldeutschen bis
zu Pazifisten, von Geldmagnaten bis
zu Gemeinwirtschaftlern, das gab den
„Vielen" nur Sensation, tempostei-
gernde, zahlengierige. Die „größte"
Welt ist heute, dank der Valuta, der
Grcnzschwierigkeiten, der Steuerfesseln
für die meisten von uns, auch für un-
sere „Großen", verloren, aber vorher
hatten schon wir in ihr uns verloren,
nnd der Reichtum der Zivilisation, die
die Erde so klein, aber den Spiclraum
des Einzelnen so groß machte, brachte
eine Verarmung der Seele. Die
ist inzwischen trotz Krieg und Gram,
trotz Hunger und Daseinskampf bei den
wenigsten reicher geworden, aber sie
könnte es werden. Das könnten wir
vom Ostasiaten lernen: tiefe, langan-
haltende Freude zu haben am Anblick
einer Blume, ciner Wolke, eines Tie-
res, bcim Hören eincs klcinsten Wort-
odcr Tongedichts. Ein 'Kinderlächeln,
das Neigen eincs Schwanenhalses, eine
Fahne im Wind, ein Auge, das uns
anblickt, frcmd zunächst und dann mit
einemmal dcn Bruder erkennend, als
ob es Sonne tränke, das alles rührt
unsere Seele zutiefst, wenn sie sich nur
erschließcn mag. Vorgänge, Gegen-
stände, Licht, irgendwo mit Mensch-
lichem verknüpft, werden lebcndig, denn
es gibt kein Ding und keine Stunde,
die nicht irgend einmal ihre Seele von
nns empfangen konnten. Aber freilich,
was dem beschaulichen Dorfchinesen ge-
lingen mag, fällt uns Kilometerfrcssern
und im ewigen Gewühl der Gassen, der
Rufer, der „Existenzkämpfer" Verlore-
nen sehr viel schwerer. Das Heilmittel
der Flucht auf das Land vermögen sich
nur wenige zn verschaffen. Vesuch von
Theatern, Konzerten, Vorträgen und
Sammlungen helfen selten zur inneren
Sammlung, weil sie meist viel zu viel
bieten. Man sollte ganz von nnten be°
ginnen, mit einer Melodie, einem
Dichterwort, einem Vildnis, eine m
edlen Gefäß. Das sollte man zeigen,
wirkcn lassen und schweigen. Und nicht
im Theater der Dreitausend, nicht im
Germanischen Museum, nicht in der
Volksfesthalle: im kleinsten Ranm vor
kleinstem Kreise. Frennde sollten sichs
zeigen, Eltern den Kindern, Liebende
einandcr. Dann känie dem und jenem
„kleinsten Welt" in ihrer rahmenspren-
genden Unendlichkeit, wie sie Ieremias
Gotthelf, Keller, Raabe in ihren Wer-
ken spiegelten, wie sie bei Goethe und
Iean Paul sich mit der größten Welt
so innig eint. Wir sind ins Dachkäm-
wohl die Stnnde des Erlcbeirs der
merchen der Weltgeschichte zurückver-
bannt und träumen doch immer noch
von falschcn Marmorsäulen und Ka-
rhatiden aus schlechtem Stuck. Wir
müssen wieder lernen, nns in die Käm-
merleinswelt hineinznsehcn, es gibt
anch hier Sonne und Farben und
draußen Frühlingsgrün und Spatzen-
gezwitscher, und die Mcnschen sind uns
viel näher als auf dcn Riesentcppichen
der „Beletage".
Freilich ist's eine Knnst, abcr da
liegt ja unsere Iukunft: daß wir die
Knnst in allen Dingen erkennen, im
Handwerk, im menschlichen Verkehr, im
Frohscin, die Kunst odcr die Religion
oder den letzten Sinn, wie wir's nun
nennen wollen. Falsch wäre es, wollten
wir znm Reichen sagen: nnr wir Ar°
men kennen den Weg znm Glück, zur
Seelenruhe. Aber: auch wir Armen
kennen ihn und wollen ihn gehcn ler-
80
Die größte und die kleinste Welt
s gibt zwei Pole des Erlebens.
Zwischen ihnen liegt die Fülle
menschlicher Halbheiten und Kompro-
misse. Nur bei ganz großen Menschen
kann es vorkommen, daß sie die Fülle
der Gesichte, die ein reiches, bewegtes
Außenleben ihnen schenkt, aufneh-
men uud zugleich eine ganz stille, eiu -
same Stunde erleben könuen.
Die Zeit vor dem Krieg hat man-
chem ein reiches Außenleben er-
möglicht, davon zeugt unsre exotische
Roman- und Bühnenlitcratur und das
Tagcbuch eines Hermanu Keyserling,
davon zcugt unsre Neise-, Besichti-
gungs-, Verguügungs- und Abeuteuer-
lust, die nur in „Dimensionen" ein
Genügen fand — und selbst da nicht.
Denn, was den Großen kosmische Trun-
kenheit schenkte, vou Liliencron bis zu
dcn Aktivisten, von Alldeutschen bis
zu Pazifisten, von Geldmagnaten bis
zu Gemeinwirtschaftlern, das gab den
„Vielen" nur Sensation, tempostei-
gernde, zahlengierige. Die „größte"
Welt ist heute, dank der Valuta, der
Grcnzschwierigkeiten, der Steuerfesseln
für die meisten von uns, auch für un-
sere „Großen", verloren, aber vorher
hatten schon wir in ihr uns verloren,
nnd der Reichtum der Zivilisation, die
die Erde so klein, aber den Spiclraum
des Einzelnen so groß machte, brachte
eine Verarmung der Seele. Die
ist inzwischen trotz Krieg und Gram,
trotz Hunger und Daseinskampf bei den
wenigsten reicher geworden, aber sie
könnte es werden. Das könnten wir
vom Ostasiaten lernen: tiefe, langan-
haltende Freude zu haben am Anblick
einer Blume, ciner Wolke, eines Tie-
res, bcim Hören eincs klcinsten Wort-
odcr Tongedichts. Ein 'Kinderlächeln,
das Neigen eincs Schwanenhalses, eine
Fahne im Wind, ein Auge, das uns
anblickt, frcmd zunächst und dann mit
einemmal dcn Bruder erkennend, als
ob es Sonne tränke, das alles rührt
unsere Seele zutiefst, wenn sie sich nur
erschließcn mag. Vorgänge, Gegen-
stände, Licht, irgendwo mit Mensch-
lichem verknüpft, werden lebcndig, denn
es gibt kein Ding und keine Stunde,
die nicht irgend einmal ihre Seele von
nns empfangen konnten. Aber freilich,
was dem beschaulichen Dorfchinesen ge-
lingen mag, fällt uns Kilometerfrcssern
und im ewigen Gewühl der Gassen, der
Rufer, der „Existenzkämpfer" Verlore-
nen sehr viel schwerer. Das Heilmittel
der Flucht auf das Land vermögen sich
nur wenige zn verschaffen. Vesuch von
Theatern, Konzerten, Vorträgen und
Sammlungen helfen selten zur inneren
Sammlung, weil sie meist viel zu viel
bieten. Man sollte ganz von nnten be°
ginnen, mit einer Melodie, einem
Dichterwort, einem Vildnis, eine m
edlen Gefäß. Das sollte man zeigen,
wirkcn lassen und schweigen. Und nicht
im Theater der Dreitausend, nicht im
Germanischen Museum, nicht in der
Volksfesthalle: im kleinsten Ranm vor
kleinstem Kreise. Frennde sollten sichs
zeigen, Eltern den Kindern, Liebende
einandcr. Dann känie dem und jenem
„kleinsten Welt" in ihrer rahmenspren-
genden Unendlichkeit, wie sie Ieremias
Gotthelf, Keller, Raabe in ihren Wer-
ken spiegelten, wie sie bei Goethe und
Iean Paul sich mit der größten Welt
so innig eint. Wir sind ins Dachkäm-
wohl die Stnnde des Erlcbeirs der
merchen der Weltgeschichte zurückver-
bannt und träumen doch immer noch
von falschcn Marmorsäulen und Ka-
rhatiden aus schlechtem Stuck. Wir
müssen wieder lernen, nns in die Käm-
merleinswelt hineinznsehcn, es gibt
anch hier Sonne und Farben und
draußen Frühlingsgrün und Spatzen-
gezwitscher, und die Mcnschen sind uns
viel näher als auf dcn Riesentcppichen
der „Beletage".
Freilich ist's eine Knnst, abcr da
liegt ja unsere Iukunft: daß wir die
Knnst in allen Dingen erkennen, im
Handwerk, im menschlichen Verkehr, im
Frohscin, die Kunst odcr die Religion
oder den letzten Sinn, wie wir's nun
nennen wollen. Falsch wäre es, wollten
wir znm Reichen sagen: nnr wir Ar°
men kennen den Weg znm Glück, zur
Seelenruhe. Aber: auch wir Armen
kennen ihn und wollen ihn gehcn ler-
80