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Kunstwart und Kulturwart — 33,3.1920

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Heft 14 (2. Aprilheft 1920)
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Keyserling, Hermann Graf: Erscheinungswelt und Geistesmacht
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Bonus, Arthur: Was kommt?
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https://doi.org/10.11588/diglit.14991#0083

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müssen uns jeden Augenblick dessen bewußt sein, daß die Erde genau nur
so erscheinen kann, wie ihre Bewohner sie haben wollen; daß alles Äußer-
liche wesentlich innere Gründe hat. Glauben wir an uns selbst, im Lichte rich-
tiger angemessener Selbsterkenntnis, so erwachen ungeheuere Kräfte in ihnen.
Glauben wir an die Äbermacht der Erscheinungswelt, so schlägt diese uns
hohnlachend in Ketten. So hat das kleine Serbien durchgehalten, weil
es sein inneres Wollen höher schätzte, als den Lußeren Schein; so hat sich
Deutschland seit VsZ allmonatlich preisgegeben, weil es ständig vor dem
momentanen Schein kapitulierte und sich einer inneren Wirklichkeit über--
haupt nicht bewußt erschien. Finden wir persönlichen Kontakt mit unserem
wahren Wesen, so sind wir eins mit einer kosmischen Macht. Es sind
die Mächte, die der Berge versetzende Glaube bannt. Zu dieser Vereinigung
muß sich jeder von uns bewußt erziehen. Deutschland, äußerlich betrachtet,
noch immer das Land der ehrlichsten Leute, ist heute tatsächlich das der
tiefsten metaphysischen Unaufrichtigkeit. Die meisten denken und glauben
gar nicht, was ihnen entspricht, sie sind Statisten oder Schauspieler unfrei
übernommener Bindungen. Dann steht natürlich keine Geistesmacht hinter
ihnen und sie brauchen sich nicht darüber zu wundern, daß ihre rein
mechanische Macht, das Geschöpf äußerlicher Organisation, überall nur
yaß und Verachtung weckt. Also besinnen wir uns auf uns selbst! Ieder
trägt, ob er es weiß oder nicht, einen göttlichen Funken in sich. In jedem
lebt etwas, was schöpferische Initiative werden kann. Ieder weiß nur
ein Bestimmtes für sich, kann nur auf eine Weise denken, fühlen, wollen.
Erziehen wir uns dazu. Finden wir den Kontakt mit unserem tiefsten
Lebensguell. Und wir werden entdecken, daß eben die Welt, die uns jüngst
noch übermächtig in Bande schlug, in stiller Verwandlung zu nnserem
Werkzeug wird. Hermann Keyserling

Was kommt?

»^-^nd noch immer sind Sie optimistisch gestimmt?«

I I Ich will nicht verleugnen, daß ich bis in den tiefsten Grund meines
> Herzens vertrauensvoll bleibe. Nur tu ich das nicht auf Grund opti-
mistischer, sondern eher pessimistischer Betrachtung der Dinge.

„Wie soll ich dies Paradox verstehen?"

Ich will versuchen es klarzulegen. Aus tiefster Seele glaube ich an das,
was man den Sinn des Lebens genannt hat. Nnd zwar an eine Entwicklung
zum Höheren. Wenn die Entwicklung auf falschen Weg gerät, so hat sie
viele Mittel, sich zu berichtigen. Eins davon ist, daß sie selbstmörderische
Kräfte in der abgleitenden Richtung ausbildet, deren Walten das Feld
für Neueinstellung der Entwicklung freilegt. Ich würde also auch in diesem
schrecklichen Falle mein Vertrauen nicht wegwerfen. — Ich weiß, daß an
Entwicklung zu glauben, nicht mehr für vornehm gilt. Man berauscht
sich mit ^tragischer Weltanschauung". Ich verstehe das. Der Entwicklungs»
glaube, zumal wenn man ihn als Darwinismus bezeichnet, hat ein so
flaches Gesicht bekommen, daß man unwillkürlich zurücktritt, wenn das
Wort fällt. Dennoch halte ich dafür, daß dieser Glaube die ewig junge
Wahrheit bleibt. Iene Flachheiten haben sich ihm nur angesetzt.

„Dieser Glaube leuguet also nicht die Tragik, die uns allerdings auch
nahe genug gerückt ist?"

Wie also sollte er sie leugnen! Die Tragik sehen zu können, ist ja
gewiß schon etwas. Denn es gibt genug Menschen, die sie nicht sehen,
 
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